Wintersemester 2021/2022
Was Gegenwart ist und wie sie sich zeigt, wird spätestens seit der Wende zum 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert. Den gemeinsamen Hintergrund moderner Gegenwartsreflexionen bildet die widersprüchliche Erfahrung einer angesichts zunehmender Beschleunigungs- und Innovationsprozesse „schrumpfenden Gegenwart“ (Hermann Lübbe), die zugleich „breiter“ (Hans Ulrich Gumbrecht) erscheint, insofern eben jene (digitalen) Innovationen, aber auch veränderte theoretische Perspektiven auf Geschichte die Simultanität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor Augen führen. Die Ambivalenz einer schwindenden und zugleich sich ausdehnenden Gegenwart lässt sich auch für den räumlichen Bedeutungshorizont des Gegenwartsbegriffs festhalten. Gerade die Jahre 2020 und 2021 haben deutlich gemacht, dass wir in einer Zeit des eklatanten Anwesenheitsschwundes leben, wobei sich die Präsenz von Personen, Räumen und Gegenständen scheinbar nur mit einem Klick herstellen lässt. Mehr denn je hat sich Gegenwart darüber hinaus als etwas erwiesen, das nicht einfach da ist, sondern im Rahmen medialer, politischer, kultureller und sozialer Praktiken hergestellt und organisiert wird. Die Mosse Lectures wollen jene Performanz des Gegenwärtigen, aber auch gegenwärtige Performanzen genauer in den Blick nehmen: Welches sind die Schauplätze, an denen Aktualität und Präsenz zur Aufführung gelangen? Neben hochgradig performativen Settings wie dem Parlament, dem Gerichtssaal und dem Theaterraum selbst sind hier auch weniger offenkundige Bühnen, Transitzonen und digitale Kommunikationsräume angesprochen, in denen ganz neue Fragen und Formen der (flüchtigen) Anwesenheit aufgerufen werden. Während sich viele Theater bemühen, die Krisen der Gegenwart und ihre Akteure auf ihre großen und kleinen Bühnen zu holen, wird die Straße als politische Bühne wiederentdeckt und fusioniert die Performance mit den sozialen Netzwerken. Im Hinblick auf diese Vielfalt theatralischer Räume und theatralischer Praktiken erkunden die Mosse Lectures im WS 2021/22 die Selbstinszenierung der Gegenwart.
Juliane Vogel
»Die Beweglichkeit der Szene«
– mit Stefan Willer
Donnerstag, den 4. November 2021 | 19.15 Uhr | Senatssaal der HU, Unter den Linden 6 (Berlin) bzw. Livestream über unseren YouTube-Kanal
Die Szene ist eine volatile und bewegliche Form. Ihrer ursprünglichen Bedeutung „Zelt“ nach bezeichnet sie eine provisorische Struktur, die überall errichtet und wieder abgebaut werden kann. Der Vortrag verfolgt dieses Merkmal des Provisorischen in historischer Perspektive, im Kontext des Dramas und darüber hinaus. Er untersucht das Potential einer Form, die auch dann, wenn sie wie im Drama integriert und auf dem Theater sesshaft wird, weiterhin in Bewegung ist. Szenen versetzen das Gefüge in Unruhe, in das sie eingebunden sind. Der Vortrag will in einem historischen Teil den Versuchen nachgehen, die sich darauf ausrichteten, die Szene zu disziplinieren, zugleich aber das politische Potential einer Form aufzeigen, die überall dort, wo sie hinkommt, neue Erscheinungsräume eröffnet.
Juliane Vogel ist seit 2007 Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz, dort u.a. Beteiligung am abgeschlossenen Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration; Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Drama, dessen kulturelle, anthropologische und politische Dimensionen sie international erforscht; 2019 wurde sie mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet; neben zahlreichen Aufsätzen erschien von ihr zuletzt u.a. Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden (mit Bettine Menke, 2018).
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Barrie Kosky
»Die Gegenwart der Komödie«
– mit Ethel Matala de Mazza
Donnerstag, den 9. Dezember 2021 | 19.15 Uhr | Teilnahme via Livestream über unseren YouTube-Kanal
Zum besonderen Profil der Komischen Oper Berlin gehört die Breite ihres Repertoires. Neben zeitlosen Klassikern der ernsten und der Buffa-Oper zählen dazu moderne Musicals, unter Barrie Koskys Intendanz jedoch auch totgesagte Unterhaltungsgenres wie die Operette oder das Vaudeville, mit denen Musikkomödien in der Behrenstraße während der letzten zehn Jahre auffallend präsent waren. Und unerwartet erfolgreich. Wie passen diese Boulevardstücke in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts? Und welche Seiten der Gegenwart lassen sich in solchen Komödien ausspielen? Brauchen sie den Aktualitätsbezug als Reservoir für Komik? Welche Folgen hatte während des Lockdowns das Ausweichen in den Stream für die Gestaltung des digitalen Spielplans? Ließ sich das Abstandsgebot zum Publikum für die mediale Re-Inszenierung von Live-Aufführungen gerade der Musikkomödien auch produktiv machen? Ethel Matala de Mazza spricht mit Barrie Kosky über sein Faible für das komische Theater abseits der Oper, über die Regiearbeit in Zeiten der Pandemie und über die Rückkehr zum Betrieb bei anwesendem Publikum in seiner letzten Spielzeit an der Komischen Oper als Intendant.
Barrie Kosky ist ein deutsch-australischer Opern- und Theaterregisseur, seit 2012 Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin; Inszenierung zahlreicher Stücke an europäischen und australischen Theater- und Opernhäusern; häufige Auseinandersetzung mit jüdischer Identität und Kultur in vielen seiner Stücke, für die er mehrfach, u.a. mit dem Faustpreis und dem International Opera Award, ausgezeichnet wurde; aktuell ist u.a. seine Neuinszenierung von Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny zu sehen.
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Milo Rau
»Performance und Politik«
– mit Karin Krauthausen | Einführung: Ulrike Vedder
Donnerstag, den 13. Januar 2022 | 19.15 Uhr | Livestream über unseren YouTube-Kanal
Wie wird aus einem Jesusfilm eine politische Kampagne und ein neues Distributionssystem für Tomaten und Kunst? Wie entstehen unwahrscheinliche Solidaritäten zwischen Kontinenten, zwischen Künstlerinnen und Aktivistinnen, zwischen Genres und Produktionsformen? Was ist eine symbolische Institution und wie können wir die Welt durch Kunst verändern? Im Gespräch mit Karin Krauthausen skizziert Milo Rau seine politische Ästhetik des „Globalen Realismus“.
Milo Rau ist ein schweizer Theater- und Filmregisseur sowie Dramenautor; Arbeit für zahlreiche internationale Theaterhäuser und -festivals; Vielzahl politischer Theaterprojekte, die zu Recherchen u.a. in Syrien, dem Kongo und Lateinamerika sowie zur Gründung des International Institute of Political Murder (IIPM) führten; seine mehrfach, u.a. mit dem Schweizer Filmpreis und dem Peter-Weiss-Preis, ausgezeichneten Arbeiten zeugen von einem starken Interesse an den Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem sowie an der Ästhetik des Reenactments.
Karin Krauthausen ist eine Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, deren Forschungsschwerpunkte auf epistemologischen und praxeologischen Fragen liegen sowie auf der interdisziplinären Auseinandersetzung mit Wahrnehmungsweisen, Realismus(-konzepten) sowie dem Strukturalismus; mehrjährige Arbeit am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und den Exzellenzclustern Bild–Wissen–Gestaltung und Matters of Activity. Image Space Material an der Humboldt-Universität zu Berlin; zuletzt erschien u.a. Make it real. Für einen strukturalen Realismus (mit Stephan Kammer, 2020).
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Hans Ulrich Gumbrecht
»Welche Präsenz braucht die Gegenwart? Über Dispositive der Reflexion und Rituale der Intensität«
– mit Jonas Lüscher
Donnerstag, den 27. Januar 2022 | 19.15 Uhr | Livestream über unseren YouTube-Kanal
Wenn wir uns mit dem Begriff der „Präsenz“ auf jene unaufhebbare körperlich-räumliche Dimension beziehen, mit der Menschen – neben dem Impuls der Sinnzuschreibung – auf alle Gegenstände ihres Bewusstseins reagieren, dann hat die Pandemie-Gegenwart einen mit der frühen Neuzeit einsetzenden Prozess der Präsenz-Abnahme zu einem kaum noch unterbietbaren Minimum gebracht. Und wir überleben erstaunlich gut zwischen elektronischen Gestellen, die Raum und Körper einklammern, so gut, dass man sich ab und an nostalgische Erinnerungen an Präsenz leisten kann. Doch dies ist gerade nicht jene Präsenz, welche Bewohner des fortgeschrittenen einundzwanzigsten Jahrhunderts existentiell brauchen. Wie ließe sich dagegen eine Präsenz beschreiben und heraufbeschwören, die der Sehnsucht entgegenkäme, uns in einer als Komplexität ohne Verbindlichkeiten erlebten Gegenwart an etwas festhalten zu können?
Hans Ulrich Gumbrecht ist ein deutsch-amerikanischer Literaturwissenschaftler, Romanist und Publizist, der bis zu seiner Emeritierung 2018 den Lehrstuhl für Komparatistik an der Stanford University innehatte; seine Forschungsinteressen liegen u.a. in Gegenwartskonstruktionen und Fragen der Präsenz, in diesem Zuge entstanden u.a. die Publikationen Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz (2004), Präsenz (2012) und Brüchige Gegenwart. Reflexionen und Reaktionen (mit René Scheu, 2020); für sein Werk erhielt Gumbrecht zahlreiche Ehrendoktorwürden und den Kulturpreis der Stadt Würzburg.
Jonas Lüscher ist ein schweizerisch-deutscher Autor und Essayist; 2013 literarisches Debut mit der mehrfach ausgezeichneten Novelle Frühling der Barbaren; 2017 erschien sein erster Roman Kraft, für den er den Schweizer Buchpreis erhielt; Lüscher war zunächst als Lehrer in Bern und anschließend als Dramaturg in der deutschen Filmindustrie tätig; später Beschäftigung an mehreren Hochschulen; sein literarisches Schreiben ist geprägt von Fragen nach der Bedeutung des Erzählens für die Wirklichkeits- und Gegenwartskonstitution; zuletzt erschien u.a. Ins Erzählen flüchten (2020).
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Ildikó Enyedi
»Dramaturgy, a secret weapon«
– mit Lothar Müller
Donnerstag, den 10. Februar 2022 | 19.15 Uhr | Livestream über unseren YouTube-Kanal
During the autumn of 2020 a 72 days long complex theatrical performance took place in the heart of Budapest with various important side events over the whole country. On the 31st of August the University of Theatre and Film Arts of Budapest (SZFE) was deprived of its academic autonomy. As an answer, at midnight the students occupied the University. 72 days later the siege had to be stopped because of the covid situation but it led to the founding of the FREESZFE association, a creative hub for learning and creating. If we compare these 72 days with other, historic examples of University occupations, we find one striking difference. These young professionals – actors, directors, writers, dramaturges etc. – expressed their protest and articulated their principles with an extremely rich and varied use of the tools of their profession. The occupation as a whole became a highly dramatized art project and each one of the many performances and events created pure theatrical time and space for all our senses where the driving force, the motor behind was dramaturgic: to define the authentic narrative of what was happening with their Alma Mater and what they were fighting for.
Ildikó Enyedi ist eine ungarische Filmregisseurin und Drehbuchautorin; 1989 filmisches Debüt mit dem Spielfilm Mein 20. Jahrhundert, für den sie die Goldene Kamera für den besten Nachwuchsfilm in Cannes erhielt; 2017 erschien ihr romantisches Melodram Körper und Seele (Originaltitel: Testről és lélekről), in dem der professionalisierte Pragmatismus für seinen Einfluss auf die Lebens- und Realitätswahrnehmung des modernen Menschen problematisiert wird – der Film erhielt bei der Berlinale einen Goldenen Bären sowie eine Oscar-Nominierung für den besten fremdsprachigen Film.
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[medienecho]:
– Torsten Flüh auf Night Out @ Berlin: Sportlicher Begriffswandel oder „geboostert“. Zu Juliane Vogels Mosse-Lecture »Die Beweglichkeit der Szene« und der Semesterreihe »Theater der Gegenwart«
– Sibylle Salewski für Deutschlandfunk Nova, Freiheit und Einsamtkeit: Von der Sehnsucht nach körperlicher Präsenz (Audiobeitrag, mit Aufzeichnung der Mosse Lecture von Hans Ulrich Gumbrecht)