Wie lassen sich die Werte einer demokratischen und säkularen Staatsbürgerschaft – die Versprechen von Citizenship und Citoyenneté der einstmals revolutionär-demokratischen Nationen – unter den heutigen Bedingungen von Globalisierung, Migration und kultureller Differenz behaupten? Oft bleiben in den aktuellen Debatten die Verunsicherungen und Ängste verborgen, mit denen die national verbürgte Staatsbürgerschaft gegen die soziale Dynamik einer weltweiten Migration und die Herausforderungen von kulturellen und ethnischen Minderheiten im eigenen Land verteidigt wird. Entstanden ist eine Grauzone zwischen der verfassungsrechtlich verbürgten Staatsbürgerschaft und der sich über die Grenzen von staatlichen Gemeinschaften hinaus bewegenden ethnischen, religiösen, sozialen und politischen Vergesellschaftung. Ist die Staatsgewalt nicht willens oder in der Lage eine aufgebrachte Bürgergewalt zu kontrollieren – so z.B. auf dem indischen Subkontinent zur Zeit der Regierung der hinduistischen BJP, aber auch in der europäischen Staatengemeinschaft in der Auseinandersetzung mit populistischen Bewegungen – , so ist die Zivilgesellschaft und ihre rechtsstaatliche Verfassung gefährdet. Wie sollten angesichts dieser realen Existenzbedingungen Investitionen in ein staatsbürgerliches Bewusstsein beschaffen sein, das die Balance hält zwischen den rechtsstaatlichen Verbindlichkeiten von Gleichheit, Glaubensfreiheit, politischer Partizipation und kultureller Diversität einerseits und den Identitätsansprüchen einer anderen, mit der westlichen nicht konformen Welt andererseits? Wie lassen sich eine europäische Bürgerschaft und ihre Rechte, wie eine »Weltbürgerschaft« denken?
Philip D. Murphy
Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin
Still True: Ask Not What Your Country Can Do For You. Ask What You Can Do For Your Country
Donnerstag, 27.10.2011, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Anmeldung erforderlich unter FAX 030 – 2093 2107
Philip D. Murphy: Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin, Studium an der Harvard University und an der Wharton School der University of Pennsylvania in Philadelphia, zuvor Senior Director bei Goldman Sachs und von 2006 bis 2009 National Finance Chair des Democratic National Committee
Dieter Gosewinkel
Wissenschaftszentrum Berlin / University of Oxford
Staatsbürgerschaft. Kämpfe um Zugehörigkeit in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Donnerstag, 10.11.2011, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Moderation:
Jürgen Kocka (Wissenschaftszentrum Berlin)
Die Staatsbürgerschaft bezeichnet einen Status der Mitgliedschaft mit Rechten, der den Angehörigen der europäischen Staaten an der Wende zum 21. Jahrhundert als Selbstverständlichkeit er-scheint. Die gegenwärtige Wahrnehmung wird bestimmt von Rechten und Lebenschancen, die die Zugehörigkeit zu einer staatlichen Gemeinschaft mit sich bringt. Hingegen wurde diese Zugehörigkeit in langen politischen und sozialen Kämpfen während des 20. Jahrhunderts gegen starke und vielfach gewaltsame Tendenzen der Diskriminierung und des Ausschlusses erkämpft. Der Vortrag vertritt die These, dass die Staatsbürgerschaft erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts anstelle der Religion, der Partei und der Klasse zur wichtigsten Form und zum maßgeblichen Bezugspunkt politischer Zugehörigkeit wurde.
Professor Dieter Gosewinkel: Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte; Promotion und Habilitation im Fach Neuere Geschichte; außerplanmäßige Professur für Neuere Geschichte an der FU Berlin; Leiter des Rule of Law Center am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; zuletzt Gastprofessuren am St Antony’s College der Universität Oxford, am Max-Weber-Kolleg Erfurt und dem Institut d’Études Politiques de Paris; wichtige Veröffentlichung zum Thema: Einbürgern und ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland (2. Auflage Göttingen 2003).
Jürgen Kocka: Professor em. für Geschichte an der FU Berlin, Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin 2001-2007, Vizepräsident der Berlin Brandenburgischen Akademie, wegweisende Publikationen zur Historischen Sozialwissenschaft und zur Sozialgeschichte; Staatsbürgerschaft in Europa (hg. mit J. Conrad 2001); Arbeiten an der Geschichte (2011)
Yaron Ezrahi
Hebrew University Jerusalem
Radical Nationalism against Democratic Citizenship in Israel
Donnerstag, 24.11.2011, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Moderation:
Moshe Zimmermann
In deutscher und englischer Sprache.
Anfangs, zur Staatsgründung Israels im Mai 1948, standen die liberalen und demokratisch-sozialen Kräfte sowie die nationalen und religiösen Zionisten zusammen. Seit den späten 1977er Jahren jedoch haben die Liberalen und die sozial und demokratisch orientierten Zionisten ständig an Boden gegenüber den säkularen und den religiösen Nationalisten verloren: einer Hegemonie der Macht, die sich bis hin zu der gegenwärtigen Netanyahu-Lieberman-Regierung – der am meisten nach rechts ausgerichteten Regierung in Israels Geschichte – entfalten konnte. Ebenso wie die Vorstellungen von einer freiheitlichen Demokratie und Staatsbürgerschaft bei Spinoza, Kant, Wilhelm von Humboldt und J.S. Mill von der nichtssagenden Wirtschaftsmacht des neoliberalen Marktes eingeebnet wurden, so ging auch in der Politik die Balance zwischen den linken und rechten Parteien verloren. Hinzu kam, dass in Israel, ebenso wie anderswo in der Welt, die soziale Demokratie durch den Niedergang des Sozialismus in den autoritär regierten Staaten an Glaubwürdigkeit verlor. In Israel gerieten die Liberalen und die sozialen Demokraten auch noch dadurch ins Hintertreffen , dass die israelische Rechte mit großem Erfolg das Post-Holocaust Trauma und den arabisch-israelischen Konflikt sich zunutze machte, um die besetzten Gebiete zu verteidigen und die arabischen Staatsbürger Israels zu diskriminieren. Die beispiellosen Massenproteste dieses Sommers zeigen jedoch, dass die Auseinandersetzungen zwischen der demokratischen Bewegung und dem radikalen Nationalismus keineswegs der Vergangenheit angehören.
Yaron Ezrahi ist Prof. em. für Politische Wissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Zu den Gegenständen seiner Forschungen und Publikationen gehören die politische Theorie und Philosophie, die Rolle der Naturwissenschaften in Kultur und Politik und das politische System Israels. Er ist ein prominenter Kritiker der israelischen Besetzungen, der Diskriminierung der arabischen Minderheit und der Fehlentwicklungen der israelischen Demokratie. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: The Descent of Icarus: Science and the Transformation of Contemorary Democracy (1990); Rubber Bullets: Power and Conscience in Modern Israel (1998); ins Deutsche übersetzt: Gewalt und Gewissen: Israels langer Weg in die Moderne (1998). Demnächst erscheint sein Buch Imagining Democracy from the Modern to the Post-Modern Era.
Moshe Zimmermann: Professor für Neuere deutsche Geschichte und Direktor des Koebner-Minerva-Zentrums an der Hebrew University in Jerusalem, Mitglied der Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amtes im Nationalsozialismus, zuletzt veröffentlicht: Deutsche gegen Deutsche. Das Schicksal der Juden 1938-1945 (2008); Die Angst vor dem Frieden. Das israelische Dilemma(2010)
Ayelet Shachar
University of Toronto
The Birthright Lottery: Citizenship and Global Inequality
Donnerstag, 01.12.2011, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Respondenz:
Samantha Besson, z.Zt. Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin
In englischer Sprache
Lokalisiert im Grenzbereich von Recht, Wirtschaft und politischer Philosophie spricht die Referentin – im Anschluss an ihr Buch The Birthright Lottery – der Staatsbürgerschaft eine zunehmende Bedeutung zu. In Zeiten, in denen die Globalisierung die Ungleichheit verstärkt, ist die Staatsbürgerschaft ein hohes Gut: eine Institution, die im Zuge einer ausgreifenden Modernisierung Lebensmöglichkeiten eröffnet. Indem sie den Begriff der Staatsbürgerschaft und ihren Erwerb in Analogie setzt zum Begriff von Erbschaft und Eigentum, kehrt sie die problematische Verbindung von Geburtsrecht und politischer Zugehörigkeit heraus. Diese hat Auswirkungen für die Sicherheit und Chancengleichheit in einer Welt, in der für den größten Teil der Bevölkerung die Mobilität durch scharfe Grenzkontrollen und Passvorschriften eingeschränkt bleibt. Der Vortrag geht den verschiedenen Implikationen nach, die sich aus dem hier konzipierten Perspektivwechsel in Bezug auf die Staatsbürgerschaft ergeben. Und er macht einige Vorschläge dazu, wie die schreienden Ungerechtigkeiten des bestehenden Systems beseitigt werden könnten.
Ayelet Shachar ist Professorin für Recht, Politische Wissenschaft und Fragen der Globalisierung an der Universität Toronto, zugleich Inhaberin der kanadischen Forschungsprofessur für Staatsbürgerschaft und Multikulturalismus. In zahlreichen Publikationen und Vorträgen behandelt sie Fragen der Staatsbürgerschaftstheorie, des Immigrationsrechts, der Migration, globaler Ungleichheit, der Rechte von Frauen und der Religionsausübung in globaler Perspektive. Ihr 2001 erschienenes Buch Multicultural Jurisdiction: Cultural Differences and Women’s Rights hat Einfluss genommen auf den Gesetzgebungsprozess und die öffentliche Diskussion in Kanada, Großbritannien und auch in den USA. Ebenso einflussreich in den Debatten um die Rechte und Pflichten der Staatsbürgerschaft war ihr Buch The Birthright Lottery (Harvard UP 2009). Sie hat Gastprofessuren und Stipendien in Princeton, Yale, Stanford, Harvard und an der New York University wahrgenommen.
Samantha Besson: Professorin für internationales und europäisches Öffentliches Recht an der Universität Fribourg / Schweiz, z. Zt. Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, Veröffentlichungen u.a.: The Morality of Conflict: Reasonable Disagreement and Law (2005); The Philosophy of International Law (hg. mit J. L. Marti, 2010)
Shalini Randeria
Universität Zürich
Enteignen und Entrechten. Verarmung und Staatsbürgerschaftsrechte im neoliberalen Indien
Donnerstag, 08.12.2011, 19 Uhr c.t., Hörsaal 1.101, Seminargebäude Dorotheenstr. 24, Zugang vom Hegelplatz
In deutscher Sprache
Die neue Konstellation von Global Governance umfasst neben dem Staat auch internationale Organisationen, multinationale Konzerne und zivilgesellschaftliche Akteure. Diese Vervielfachung von Akteuren und Arenen einer globalen Ordnungs- und Strukturpolitik hat ambivalente Auswirkungen auf die Bürgerrechte. Denn sie geht sowohl mit einer zunehmenden Transnationalisierung von Recht und Politik als auch mit einer Transformation des Staates selbst einher. Die gegenwärtig stattfindenden Prozesse der partiellen Transnationalisierung und Privatisierung des Staates verwässern die Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern. Angehörige von Staaten, die von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds Kredite empfangen haben, sind in besonderer Weise mit diesem Wandel demokratischer Partizipationsmöglichkeiten konfrontiert. Wenn mächtige sub- und supranationale nicht-staatliche Akteure die Politik gestalten, verschiebt sich oft der öffentliche Protest von der politischen Bühne auf staatliche Gerichte und internationale Gremien, um Entscheidungen juristisch anzufechten mangels politischen Mitspracherecht. Basierend auf langjähriger Forschung in Indien wird der Vortrag einigen dieser Verschiebungen zwischen öffentlich und privat, national und international, Politik und Recht nachgehen. Es werden sowohl ihre Folgen für demokratische Entscheidungsprozesse erörtert als auch Probleme der überlappenden Souveränitäten und der Fragmentierung von Bürgerrechten thematisiert.
Shalini Randeria ist Professorin für Ethnologie an der Universität Zürich, z.Zt. Fellow am Lichtenberg Kolleg der Universität Göttingen, Arbeiten zur Anthropologie von Recht, Staat, public policy und Bevölkerungspolitik und zu sozialen Konflikten auf dem indischen Subkontinent; gemeinsam edierte Sammelbände u.a. Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften (2002); Worlds on the Move: Globalization, Migration and Cultural Security (2004); Konfigurationen der Moderne. Diskurse zu Indien (2004); Vom Imperialismus zum Empire. Nicht-westliche Perspektiven auf die Globalisierung (2009); Border Crossings. Grenzverschiebungen in einer globalisierten Welt (im Erscheinen).
Okwui Enwezor
New York, Direktor Haus der Kunst München
Civitas, Citizenship, Civility: Art and the Civic Imagination
Donnerstag, 12.01.2012, 18 Uhr s.t., Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10
Die MOSSE-LECTURE von Okwui Enwezor zu „Civitas, Citizenship, Civility: Art and the Civic Imagination“ findet nicht um 19 Uhr c.t. im Senatssaal der HUMBOLDT-UNIVERSITÄT, sondern aus gegebenem Anlass um 18 Uhr s.t. im HAUS DER KULTUREN DER WELT, John-Foster-Dulles-Allee 10 statt.
Der Eintritt ist wie immer bei den MOSSE-LECTURES frei.
Moderation:
Horst Bredekamp
Okwui Enwezor: Direktor am Haus der Kunst, München, zuvor Kurator am International Center of Photography in New York, künstlerischer Leiter der documenta 11 und seitdem Kurator zahlreicher Ausstellungen u.a. am Museum of Modern Art, dem Guggenheim Museum und der Tate Gallery, Veröffentlichungen u.a.: Archive Fever: Uses of the Document in Contemporary Art (2008); Events oft the Self: Contemporary African Photography (2010); Mega Exhibitions: Antinomies of a Transnational Global Form (2010)
Horst Bredekamp: Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität, Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Veröffentlichungen u.a.: »Galilei der Künstler« (2. Aufl. 2009), »Der Künstler als Verbrecher. Ein Element der frühmodernen Rechts- und Staatstheorie« (2008), »Michelangelo« (2009), »Ikonologie der Gegenwart« (hg. mit G. Boehm, 2010), »Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen« 2007 (2010)
Norbert Lammert
Präsident des Deutschen Bundestages
Demokratischer Rechtsstaat und multikulturelle Bürgergesellschaft
Dienstag, 07.02.2012, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Begrüßung:
Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der HU
In einer Gesellschaft, die zunehmend multikulturell geprägt ist, wird die Verständigung über gemeinsame und verbindliche Werte und Überzeugungen dringender. Integration kann nur gelingen, wenn neben ökonomischen und sozialen auch kulturelle Mindestvoraussetzungen für das Zusammenleben sichergestellt sind. Aufgabe der Politik ist es, genau dafür immer wieder einzutreten. Wie kann das geschehen, auch mit Hilfe der Zivilgesellschaft? Und welche Mindestvoraussetzungen müssen erfüllt, welche gemeinsamen Orientierungen unumstritten sein?
Norbert Lammert: seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2008 Honorarprofessor an der Universität Bochum, zahlreiche weitere öffentliche Ämter und Auszeichnungen u.a. mit dem Dolf Sternberger Preis für öffentliche Rede (2010); 2006 erschien die von ihm initiierte und herausgegebene Sammlung von Beiträgen zum Thema Verfassung, Patriotismus, Leitkultur; 2010 eine Sammlung mit Reden und Aufsätzen unter dem Titel Einigkeit. Und Recht. Und Freiheit.