Herausforderungen der Demokratie
Die Hoffnung war, dass sich nach dem Ende des Kalten Krieges mehr und mehr Staaten mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ‚demokratisieren‘ würden. Seit der Jahrtausendwende wurden diese Erwartungen jedoch zusehends enttäuscht. Unter dem Druck grassierender Globalisierungsängste, mit dem Erstarken populistischer Bewegungen und im Zeichen von Wirtschafts- und Sicherheitskrisen scheint mittlerweile das zur Option geworden zu sein, was man als Autokratie beschreibt: eine Herrschaftsform, die auf Selbstermächtigung und Machtmonopolisierung gründet und die sich durch den Ausschluss des Anderen und Fremden konsolidiert. In der geopolitischen Strategieplanung der Demokratieforschung der 1990er Jahren wurde, zumeist im Auftrag westlicher Staaten, ein weltweiter Systemwechsel beobachtet. Die Vorstellungen vom Autokratismus im Anschluss an die Totalitarismus-Forschung der Nachkriegsjahre haben sich als wenig aussagekräftig erwiesen. Autokraten gelangen heute in populistischer Manier und nicht zuletzt mit Techniken und Praktiken neoliberaler Governance an die Macht. Einmal etabliert, wenden sie sich nicht vom Volke ab, sondern koppeln ihre eigene Berechtigung an messbare Erfolge wie Wohlstand, religiöse und moralische Erneuerungen oder expansive Macht. Autokratien kann man als Hybride verstehen, die die sozialen Systeme von Wirtschaft, Politik und Recht engst möglich verkoppeln. Es gilt, die historische und zeitgenössische Spezifik dieses Machttypus zu erfassen: die ‚elektorale Autokratie‘ im Rußland Wladimir Putins, Recep Erdogans Programm einer islamischen Präsidialautokratie, die Weiterentwicklung der iranischen Theokratie, die in der Volksrepublik China in Aussicht genommene digital gestützte Sicherung der Einparteienherrschaft, nicht zuletzt die verfassungsrechtlich bedenklichen autokratischen Tendenzen in Europa und in den USA.
Pierre Rosanvallon
Democracy and Populism in the 21st Century
Donnerstag, 14.06.2018, 19 Uhr c.t.,
Populismen setzen sich mit Macht überall in der Welt durch. Man muss diese historische Bewegung ernst nehmen, welche die Demokratien in noch nie da gewesener Art und Weise herausfordert. Dies einfach nur für einen Ausbruch von Demagogie zu halten, wird nicht ausreichen. Populismen gehen zurück auf eine grundlegende Enttäuschung und Entzauberung der Demokratie, ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber den ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Über die gängigen Populismen könnte man das sagen, was Marx von der Religion sagte: um dieser Bewegung die Stirn zu bieten, muss man von Fall zu Fall aufdecken, wie deren nationalistische und protektionistische Visionen allein auf die Ökonomie bezogen und durch sie bedingt sind. In Weiterführung der Überlegungen in Rosanvallons Buch Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens wird der Vortrag vor allem dieser Frage im Rahmen einer Globalanalyse nachgehen. Daraus ergeben sich Vorschläge, wie gegen die Bedrohung, die der Populismus für die Demokratie darstellt, qualifiziert und zweckmäßig vorgegangen werden kann.
Pierre Rosanvallon ist Professor für Neuere und Neueste politische Geschichte am Collège de France und Directeur an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Ausgezeichnet u.a. mit dem Bielefelder Wissenschaftspreis im Gedenken an Niklas Luhmann, gilt er als einer der renommiertesten Theoretiker der westlichen Demokratien und Kritiker der in der Türkei und Russland aus einer Präsidialdemokratie entstehenden autoritären Systeme. Seine grundlegenden Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auf Deutsch liegen in der Hamburger Edition des Instituts für Sozialforschung vor: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe (2010), Die Gesellschaft der Gleichen (2013), Die gute Regierung (2016), Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens (2017).
Hier gelangen Sie zu einem Beitrag von Torsten Flüh über die Mosse-Lectue mit Pierre Rosanvallon: „Brauchen wir mehr Populismus? – Pierre Rosanvallon hält eine Mosse-Lecture zur radikalen Demokratie“