Schreiber sind zuallererst Leser, besonders wenn sie anfangen zu schreiben. Nicht nur sind Einfluss und Vorbild von Bedeutung, sondern auch Affinitäten zu den anderen Künsten, Bildungserlebnisse und Begegnungen mit fremden Welten, über die sich sprachlich, sachlich und kulturell Nachbarschaften des Schreibens herausstellen, als Neigung, Wunsch und nicht selten als Obsession. Oft wird das gegenwärtige Schreiben zum Resonanzraum einer hinreißenden und verstörenden literarischen Vergangenheit, z. B. der eines Franz Kafka, Alfred Döblin, Samuel Beckett oder Thomas Bernhard. Werden Autoren geplagt von einer „anxiety of influence“, wie der Literaturkritiker Harold Bloom vermutet hat, von einer Übermacht literarischer Vaterschaften? Oder ist es eher so, dass eine Sphäre der Nachbarschaft und der intertextuellen und interkulturellen Verständigung das gegenwärtige Schreiben bestärkt, seinen Realitätssinn, seine sprachliche Kraft und seine gedankliche Ordnung? Die idées reçues können enorm kreativ sein im Umschreiben und Überschreiben: in einer Art Architextur der produktiven Begegnung und Verhandlung mit dem Vorgängigen. Sachliches Wissen und literarische Kennerschaft kommen zusammen mit ästhetischem Vermögen und Vergnügen. Mit Kleists Lebenszeugnissen und Büchners Schrift über den Dichter Lenz gewinnt ein Robert Walser, sympathetisch und widerwillig zugleich, die existenzielle Dichte seines Schreibens und wird selber zum Medium neuerer Literatur. Zu fragen ist am Ende, was der jüngeren Generation von Schreibern und Lesern die früheren Schreibkonvolute noch bedeuten können. In die Mosse-Lectures eingeladen sind bekannte Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern und Kulturen, um in Vortrag, Lesung und Gespräch Einblick zu geben in ihre literarische Werkstatt.
Reinhard Jirgl
mit Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung
Alfred Döblin: Autor der Unruhe
Donnerstag, 30.10.2014, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
In zahlreichen Essays forderte Alfred Döblin die Dichter näher heran ans Leben, in die Prozesse des Gegenwartsgeschehens sich einzumischen. Er polemisierte gegen ästhetisierende Abstinenz jener Künstler, die »von Homer einzig die Blindheit erbten«. Stetes Anliegen: die Künste nicht zu trennen vom Alltagserleben, sie als Darstellung »einer lebennachbildenden Handlung« des ganzheitlichen Menschen in einer entseelten Realität zu begreifen. – Naturalismus, Tatsachenfantasie, das Ich und die Gesellschaft, dies waren für Döblin drei Hauptinstrumente, um neue Wirklichkeiten literarisch zu erschließen. Das provozierte, weil es Unruhe schuf. Wie ist es bestellt um dieses Instrumentarium für die Arbeit eines Schriftstellers, dessen Lebens- und Gedankenräume sich im Hier und Heute mit der Gegenwart eines neuen Biedermeier auseinandersetzen?
Reinhard Jirgl Autor zahlreicher Romane und Aufsätze zur Literatur; mehrere in den 1980er Jahren noch in der DDR entstandene Texte erschienen erst nach der Wende von 1989, so der »Mutter Vater Roman« (1990) und die Trilogie „Genealogie des Tötens (2002); weitere Werke u.a. »Abschied von den Feinden« (1995), »Abtrünnig« (2005), »Die Stille« (2009) und der Essayband »Land und Beute« (2008), 2013 erschien »Nichts von euch auf Erden«, von der Kritik als Science-Fiction-Roman bezeichnet, 2010 erhielt er den Georg-Büchner-Preis.
Lothar Müller Literaturwissenschaftler, Kritiker und Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität; als Buchpublikationen neben der Dissertation über Karl Philipp Moritz Roman »Anton Reiser« sind u.a. erschienen: das mit Hartmut Böhme und Peter Matussek verfasste Studienbuch »Orientierung Kulturwissenschaft« (2000), die Bildbiographie zu »Hermann Bang« (2011) und das medienhistorische Werk »Weisse Magie. Die Epoche des Papiers« (2012).
Vladimir Sorokin
mit Timofey Neshitov, Süddeutsche Zeitung
›Der Schneesturm‹. Ein erzählerischer Kosmos
Donnerstag, 13.11.2014, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Die russische Literaturgeschichte, die Beziehung Russlands zum »Westen« und seine politische und kulturelle Ausrichtung nach dem Ende der Sowjetunion haben in den Erzählwerken Vladimir Sorokins tiefe Spuren hinterlassen. In seinen neueren Romanen entwickelt er in einer Art Retro-Science-Fiction die politpoetische Vision einer imaginären Landschaft, in der sich Selbstverständnis und Kritik Russlands auf eigentümliche und provokante Art und Weise miteinander verbinden, so vor allem in seiner in Moskau 2013 erschienenen, noch nicht übersetzten Dystopie einer Republik namens »Tellurija«. Sorokin wird aus seinem nicht zuletzt an Kafkas »Landarzt« erinnernden Roman »Der Schneesturm« lesen und anschließend mit Timofey Neshitov diskutieren.
Bitte lesen Sie auch dazu das Gespräch über Schnee mit Vladimir Sorokin im Literaturportal novinki
http://www.novinki.de/sasse-sylvia-gespraech-ueber-schnee/
Vladimir Sorokin Russischer Schriftsteller; nach der Beschäftigung mit der Malerei, Konzeptkunst und Buchillustrationen seit den 1980er Jahren Veröffentlichung von Erzählungen und Essays, zunächst im Ausland; es folgten zahlreiche Drehbücher, Theaterstücke und zumeist systemkritische Romane; in Deutschland uraufgeführt u.a. »Hochzeitsreise« von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne und »Ein Monat Dachau« von Dimiter Gotscheff am Düsseldorfer Schauspielhaus; in deutscher Übersetzung veröffentlichte Romane u.a. »Ljod. Das Eis« (2003), »Der Tag des Opritschniks« (2008), »23000« (2010), »Zucker-Kreml« (2010), »Der Schneesturm« (2012). 2013 erschien in Moskau sein neuer Roman »Telluria«.
Timofey Neshitov ist gebürtiger Russe und russischer Staatsbürger; nach einem Studium in Petersburg und an der Deutschen Journalistenschule in München Deutschlandkorrespondent einer türkischen Zeitung und Mitarbeiter der taz und des Bayerischen Rundfunks; hauptsächlich schreibt er für die Süddeutsche Zeitung Berichte und Reportagen über Osteuropa, in letzter Zeit v.a. über den Zustand der russischen Gesellschaft und die Lage auf der Krim und in der Ukraine.
Brigitte Kronauer
mit Ulrike Vedder, HU Berlin
Favoriten? Vorbilder?
Donnerstag, 20.11.2014, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Brigitte Kronauers Vielfalt des Schreibens ist frei von jener Vorherrschaft des Geschriebenen über das Schreiben, vor der die Literaturkritik in Erwartung des neuen und anderen Werkes gelegentlich warnt. Allein eine gewisse »Wirksamkeit auf der Zunge« bemerkt sie, wenn sie von ihrem Lesen quer durch die Literaturgeschichten berichtet. Auf die Frage, worüber sie in ihrer Mosse-Lecture sprechen wird antwortet Brigitte Kronauer: »Über die Schädlichkeit von Vorbildern und den Nutzen von Favoriten. Ein organisierter Streifzug durch das Dickicht kurzzeitig und lebenslang von der Autorin bevorzugter Lektüren. Zugleich der Versuch einer sehr persönlichen literarischen Entwicklungsgeschichte in großen Sprüngen am Beispiel von Wendepunkten, bei denen auf dem Weg zum schriftstellerischen Selbst aus Favoriten Geburtshelfer und entscheidende Lehrer wurden: Ror Wolf, Joseph Conrad, Jean Paul.«
Brigitte Kronauer, mit ihren zahlreichen Romanen, Erzählungen, Kritiken, Essays und Vorträgen gilt sie als eine poetologisch, kunsthistorisch und medienkritisch besonders kundige Autorin; in den letzten Jahren erschienen u.a. »Errötende Mörder« (2007), »Zwei schwarze Jäger« (2008), »Favoriten. Aufsätze zur Literatur« (2011), »Gewäsch und Gewimmel« (2013); 2014 veröffentlichte sie einen Sammelband mit von ihr ausgewählten und kommentierten Balladen; Poetik-Vorlesungen und Poetik-Dozenturen u.a. in Tübingen, Zürich, Leipzig und Wien; zahlreiche Preisverleihungen u.a. Büchner-Preis (2005) und Jean-Paul-Preis (2011).
Ulrike Vedder, Professorin für neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität mit Schwerpunkten in der Literatur- und Kulturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert und in der Geschlechterforschung; Veröffentlichungen u.a. »Geschickte Liebe. Zur Mediengeschichte des Liebesdiskurses« (2002), »Das Konzept der Generationen. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte« (mit Ohad Pames und Stefan Willer), »Das Testament als literarisches Dispositiv« (2011).
Colm Toibin
mit Tobias Döring, LMU München
›The Silence Between‹. Music and the Novel
Donnerstag, 11.12.2014, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Colm Toibin Irischer Autor von Erzählungen, Romanen, Essays zur Literatur und Theaterstücken, ständiger Gastprofessor an der Columbia University in New York, bekannt für sein gesellschaftskritisches und engagiertes Schreiben, u.a. in der Schwulenbewegung, ebenso für die Selbstthematisierung der Literatur und anderer Künste; in deutscher Übersetzung sind u.a. erschienen: »Porträt des Meisters in mittleren Jahren« (2005), »Mütter und Söhne« (2009), »Brooklyn« (2010); 2012 veröffentlicht: »The Testament of Mary« (deutsch »Marias Testament«, 2014), als Theaterstück am Broadway aufgeführt, als Audio Book gelesen von Meryl Steep. Im Oktober erscheint der neue Roman »Nora Webster«.
Tobias Döring Professor für Englische Literaturwissenschaft an der LMU München, Arbeitsschwerpunkte in den Postcolonial Studies undin der Frühzeit der Moderne, insbesondere zu Shakespeare, neben zahlreichen Literaturkritiken und Aufsätzen u.a. Autor der Monographien »Performances of Mourning in Shakespearean Theatre and Early Modern Culture« (2006) und »Postcolonial Literature in English« (2008), hg. mit Mark Stein 2012 »Edward Said’s Translocations«.
Gregor Dotzauer vom Tagesspiegel zu Colm Toibins Mosse-Lecture:
Torsten Flüh von NIGHTOUTatBERLIN zu Colm Toibin
http://nightoutatberlin.jaxblog.de/
Lutz Seiler
mit Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung
›Die dunkle Seite des Mondes‹. Über Georg Trakl, Stefan George und Pink Floyd
Donnerstag, 29.01.2015, 19 Uhr c.t., Dorotheenstr. 24, Hörsaal 1.101
»Wo hat der Junge das nur her?«, fragte meine Großmutter öfter, und zwar meine Mutter, die es auch nicht wusste. Sobald das Nachdenken über die eigene Herkunft beginnt, setzt eine Suche nach Ausgangsgrößen ein. Die Geschichte des frühen Hörens, Lesens und Schreibens ist geprägt von Situationen, dem Erlebnis der ersten Begegnung, Ankerstellen, auf die das Schreiben ein Leben lang zurückkommen kann. Drei dieser Ankerstellen sollen zur Sprache kommen: Trakl, George und Pink Floyd – weniger im poetologischen Sinne, mehr als Erzählung vom Hören und Lesen. Lesegeschichte als Lebensgeschichte.
Lutz Seiler, Autor von Gedichten, Erzählungen und poetologischen Aufsätzen, lebt in Stockholm und Wilhelmshorst im Haus von Peter Huchel, mit dessen Werk er sich verbunden fühlt. Erschienen sind in den letzten 15 Jahren zahlreiche preisgekrönte Lyrikbände u.a. »pech und blende« (2000), »vierzig kilometer nacht« (2003) und »im felderlatein« (2010); für die Erzählung »Turksib« erhielt er 2008 den Ingeborg-Bachmann-Preis; 2014 erschienen verstreut publizierte literarische Aufsätze unter dem Titel »Sonntags dachte ich an Gott« und der Roman »Kruso«, der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. 2015 wird ihm der Marie-Luise-Kaschnitz-Preis verliehen.
Lothar Müller, Literaturwissenschaftler, Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität; 2012 erschien sein Buch »Weisse Magie. Die Epoche des Papiers«.
Christoph Dieckmann von ZEIT-Online zu Lutz Seilers Mosse-Lecture
http://www.zeit.de/2015/07/lutz-seiler-professor-schriftsteller