Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Ökonomie, die sich an wirtschaftlichen Interessen von Großunternehmen und shareholders orientiert, nimmt die materielle Unsicherheit breiter Bevölkerungsschichten zu, wächst die ungleiche Verteilung von Bildung und Lebenschancen. Hinzu kommt die tagtägliche Erfahrung von sozialer und auch rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung. In Wissenschaft und Politik mehren sich die Stimmen, die angesichts dieser Lagebeschreibung eine „Rückkehr der Klassengesellschaft“ annehmen. Es entstehen vielfältige soziale Bewegungen, an verschiedenen Orten, aus unterschiedlichen Lebenslagen und mit speziellen Motivationen: diversifiziert und nicht zentriert wie einstmals die soziale und politische Organisation der Arbeiterklasse. Entsprechend vielfältig sind die Praktiken, die anstelle eines Klassenbewusstseins ein Selbstbewusstsein der Emanzipation und des Widerstands hervorbringen oder zumindest einfordern. Eine klassenspezifische Zugehörigkeit und Solidarität, nach Herkunft, Schicht und Milieu, nach Erwerb und Besitz sowie unterschiedlichen Lebensformen- und Verhaltensweisen kann nicht kompakt behauptet, wohl aber symptomatisch rekonstruiert werden. Ist eine kulturelle Identitätspolitik, welche die Diversität aller möglichen Lebensentwürfe und Lebensstile auszeichnet, an die Stelle organisierter Sozialpolitik getreten? Hat eine liberalistisch orientierte marktkonforme Demokratie, welche die offensichtlichen Umstände einer „real existierende Klassengesellschaft“ ausspart, die soziale Demokratie ersetzt? Einige Kenner und Kritiker brandmarken die vorherrschende „Reichtumsverteidigungspolitik“ und sprechen von einem „Klassenkampf der Finanzoligarchie“ gegen den Rest der Bevölkerung. Mit welchem Recht und mit welcher Begründung? Kann der sich abzeichnende gesellschaftliche Strukturwandel („autoritärer Kapitalismus“, sozialpolitisch motivierte Protestbewegungen) eine erneuerte „Klassenpolitik“ hervorbringen? Wie entstehen Widerstand, Zusammenhalt, Kollektivität?
Andreas Reckwitz
Mit Joseph Vogl
Die Spätmoderne und ihre Drei-Klassen-Gesellschaft
Donnerstag, 31.10.2019, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
In den Gesellschaften des globalen Nordens erlebt die Sozialstruktur in den letzten Jahr-zehnten eine tiefgreifende Transformation. Der Vortrag verfolgt die These, dass es sich dabei nicht nur um eine Verstärkung sozioökonomischer Ungleichheiten, sondern auch um eine Divergenz von Mustern der kulturellen Lebensführung handelt, welche die Form eines Paternoster-Effekts annimmt: Aus der nivellierten Mittelstandsgesellschaft der industriellen Moderne steigt in der Spätmoderne eine neue, hochqualifizierte Mit-telklasse empor, während eine neue prekäre Klasse absteigt und die traditionelle Mittel-klasse sich in einer Sandwich-Position wiederfindet. Prozesse der Valorisierung (Auf-wertung) und Entwertung verlaufen parallel. Der Vortrag fragt nach den Ursachen, den Strukturmerkmalen und den künftigen Folgen dieser Entwicklung.
Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, zahlreiche Arbeiten zur Kulturtheorie in den Sozialwissenschaften, zur Soziologie der Subjekt-werdung und zum Strukturwandlung moderner Vergesellschaftung. Publikationen u.a.: „Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“, Berlin 2012; „Kreativi-tät und soziale Praxis“, Bielefeld 2016; „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne“, Berlin 2017; „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spät-moderne“, Berlin 2019. In diesem Jahr erhielt er den Leibniz-Preis der DFG.
Michèle Lamont
Mit Ethel Matala de Mazza
In Search of Hope: The Current Crisis of American Class Society
Donnerstag, 21.11.2019, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Der Mythos des „Amerikanischen Traums“ verliert im Zuge der zunehmenden Ungleichheit der Gesellschaft seine Wirksamkeit. Die massiv beschleunigte Verbreitung der neoliberalen Agenda der Selbstoptimierung, zentriert auf materiellen Erfolg, Wettbewerb und Selbstverantwortung, hat die obere Mittelklasse psychisch in einen krisenhaften Zustand versetzt, während die Arbeiterklasse und die einkommensschwachen Bevölkerungsschichten über keinerlei Ressourcen verfügen, ihr Leben noch an diesem Traum auszurichten. Afroamerikaner, Latinos und illegale Einwanderer, von denen man von vornherein annimmt, dass sie zu einem selbsttätigen Leben nicht taugen, treffen auf immer rigidere Einschränkungen. Um kulturell eine stärkere Partizipation zu ermöglichen, sollten neue und andere Narrative der Hoffnung zur Geltung kommen: Mit einer Pluralisierung der Wertschätzung des ‚anderen‘ Lebens und einem im Alltag präsenten Sinnhorizont, was einher gehen sollte mit einer Anstrengung, die derart stigmatisierten Gruppen der Gesellschaft von dieser Herabsetzung zu befreien.
Michèle Lamont Professorin für Soziologie, European and African Studies an der Harvard University, in der Nachfolge Bourdieus forscht sie zu „symbolischen“ und „sozialen“ Grenzen der Ungleichheit, zur klassenbedingten Distinktion und Chancengleichheit. Publikationen u.a. The Dignity of Working Men: Morality and the Boundaries of Race, Class, and Immigration, Harvard 2002; mit Graziella Moraes Silva et al: Getting Respect: Responding to Stigma and Discrimination in the United States, Brazil, and Israel. Princeton 2017; für ihren Essay „Prisms of Inequality: Moral Boundaries, Exclusion, and Academic Evaluation” erhielt sie 2017 den Erasmus-Preis.
Mike Savage
Mit Patrick Eiden-Offe
The Importance of Class in an Age of Inequality
Donnerstag, 09.01.2020, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Die sich neuerlich verschärfenden Klassengegensätze zeugen von der zunehmenden sozialen Spaltung der Gesellschaft, von politisch einseitigen Parteinahmen und Vorurteilen. Mike Savage zeigt in seinem Vortrag, wie die neu entstandenen Ungleichheiten sich unterscheiden von der als ‚klassisch‘ geltenden Aufteilung der Gesellschaft entlang der vorherrschenden Abgrenzung einer ‚middle class‘ von der Arbeiterklasse. Zu demonstrieren ist, wie die verstärkte Akkumulation von Kapital (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital) dazu führt, dass Klassenverhältnisse neu kenntlich werden. Vor allem die Kluft zwischen den sog. Eliten und den ‚popular classes‘ erlangt jetzt zentrale Bedeutung.
Mike Savage, Professor für Soziologie an der London School of Economics, Fellow der British Academy, Forschungen zur kulturellen Dimension von Ungleichheit, zum Verhältnis von class und gender und zu den gesellschaftlichen Eliten. Publikationen u.a.: Mit Fiona Devine, John Scott et al: Rethinking Class Culture, Identities and Lifestyles. London 2004; mit Tony Bennett, Elizabeth Silva, Alan Warde et al: Culture, Class, Distinction. London 2008; Social Class in the 21st Century. London 2015; Mitarbeit am Great British Class Survey der BBC (2015).
Patrick Eiden-Offe, Privatdozent, Gastprofessor am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität, Projektleiter am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, Arbeitsschwerpunkte zur Sozialgeschichte der Literatur, zur Theorie- und Wissenschaftsgeschichte, zum Marxismus. Publikationen u.a.: Das Reich der Demokratie. Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“. Paderborn 2011; Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Berlin 2017; zahlreiche Vorträge und Beiträge zur aktuellen Kulturpolitik u.a. in der Zeitschrift „Merkur“.
Philipp Schnee über die Mosse-Lecture im Deutschlandfunk-Kultur: „Der Begriff der Klasse in Zeiten der Ungleichheit„
Torsten Flüh über die Mosse-Lecture auf Night Out @ Berlin: „Klassenfragen, Intelligenz und Obdachlosigkeit„
Kevin Hanschke über die Mosse-Lecture in der FAZ: „Die neue M-Klasse„