Das Gelobte Land noch zu erblicken, es selbst aber nicht mehr betreten zu dürfen – dieses Schicksal, das die Bibel Moses zugeschrieben hat, scheint bis heute nicht nur religiösen Gründerfiguren, sondern all‘ jenen zu drohen, die von ersehnten, verheißenen oder utopischen Ländern künden. In einem Tagebuch-eintrag vom Oktober 1921 hat Franz Kafka diese mosaische ›Tragödie‹ als das Schicksal aller in Raum und Zeit gehegten Heilserwartung dechiffriert: »Die Witterung für Kanaan«, heißt es dort, »hat er sein Leben lang; dass er das Land erst vor seinem Tode sehen sollte, ist unglaubwürdig. … Nicht, weil sein Leben zu kurz war, kommt Moses nicht nach Kanaan, sondern weil es ein menschliches Leben war.«
Dass gelobte Länder unerreichbare Länder bleiben, mag in der Natur des menschlichen Lebens beschlossen sein. Mit Sicherheit aber wird es bereits in der Rede vom Gelobten Land vorausgesetzt. Diese nämlich ist nichts anderes als ein Sprechakt der Verheißung, der den Fluchtpunkt des Versprechens stets in ein räumliches oder zeitliches Dahinter verlegt. Diese Struktur der Unerfüllbarkeit liegt den verschiedensten – religiösen, politischen oder ökonomischen – Narrativen vom Gelobten Land zugrunde. Sie hat epochale Gattungs- und Denkformen (Berichte von Paradiesinseln, chiliastische und utopistische Texte, sozialreformerische Traktate) hervorgebracht, die wiederum auf gewissen Landschaftstopoi (besonders denen der unbekannten Insel, der undurchdringlichen Wüste oder auch der Neuen Welt) aufbauen und sich zugleich spezifischen Bewegungsmustern (denen des Auszugs, des langen Marsches und der Emigration, der Diaspora, Landnahme und Neugründung) verschreiben. Die Rede vom Gelobten Land leistet eine intensive Verbindung religiöser und politischer Diskurse, deren historische Wirkmächtigkeit bis heute andauert. Als stets noch einzulösendes Versprechen setzt sie Himmel und Erde immer wieder in Bewegung.
Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Gelobten Lands und die zugehörigen rhetorischen und narrativen Konstellationen von Religion und Politik sollen in einer Reihe von Vorträgen zur Sprache kommen. Das umfasst die notorische Verbindung vom himmlischen und irdischen Jerusalem, welche die Kreuzzüge des Hochmittelalters begleitete; das betrifft Fragen des Zionismus und die Geschichte Palästinas ebenso wie das Versprechen, das die arabische Welt mit einer (neuerlichen) Staatswerdung zu verknüpfen scheint. Den American Dream haben die jüdischen Immigranten geträumt, die in den USA das gelobte Land sehen wollten, ebenso wie zuvor die westwärts ziehenden Pioniere, deren Kanaan im Western und in der Rockmusik weiterlebt. Schließlich gilt es, den europäischen Blick mit jenem Blick zu konfrontieren, der auf Europa jenseits seiner inneren wie äußeren Grenzen fällt: War es ein nur konsumistisches Paradies, das man im Ostblock bis 1989 hinter dem ›eisernen Vorhang‹ vermutete? Inwiefern ist gerade die Festung Europa zum gelobten Land Afrikas geworden? Erscheint das Gelobte Land, wie Kafka meinte, schrankenloser je beschränkter der Zugang zu ihm ist?
Jan Assmann
Universität Heidelberg
Auszug ins Gesetz. Kanaan als normative Utopie
Donnerstag, 25.10.2012, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Jan Assmann
Prof. em. für Ägyptologie, Universität Heidelberg und Honorarprof. in Konstanz, zahlreiche Auszeichnungen, Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Akademien und Ehrendoktorate. Über die Fachgrenzen hinaus Arbeiten zur Theorie des kulturellen Gedächtnisses (mit Aleida Assmann) und zur Entstehung des Monotheismus; Publikationen u.a. Das kulturelle Gedächtnis (6. Aufl. 2007), Moses der Ägypter (1998),
Guy Stroumsa
Professor für Vergleichende Religionsgeschichte an der Hebrew University, Jerusalem
Beyond Utopia: Avatars of the Promised Land
Donnerstag, 22.11.2012, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Einführung und Moderation: Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies (HU Berlin)
Die Vorstellung vom »Gelobten Land« hat ihren Ursprung in Gottes Versprechungen an Abraham im Buch Genesis, dann in den Büchern der Propheten Israels bis zu dem Brief an die Hebräer. Das »Gelobte Land« spielt in der Spätantike eine wichtige Rolle für die eschatologischen Erwartungen von Juden und Christen und findet in einigen Passagen des Koran einen Widerhall. Allerdings finden wir bei Juden, Christen und Moslems sehr unterschiedliche Konzepte des »Gelobten Landes«. Im Gang der Geschichte haben sich diese Konzepte unterschiedlich, aber doch stets im Zusammenhang herausgebildet: Messianismus, Eschatologie der Präsenz, Wiederkehr im Himmel oder auf Erden. Das Zusammenspiel von religiösen Vorstellungen der abrahamitischen Religionen und die Wiederbelegung alter Träume geben in der Moderne den Hintergrund ab für Bestrebungen, ein »Gelobtes Land« als politisches Projekt wiederzugewinnen. In diesem Vortrag wird der Versuch unternommen, die komplexen Beziehungen zwischen dem Transfer religiöser Ideen und der historischen Entwicklung politischer Konzepte zu erhellen.
Guy Stroumsa
Professor für Vergleichende Religionsgeschichte an der Hebrew University, Jerusalem, und für die Abrahamitischen Religionen in Oxford; Forschungen zur Religionsgeschichte der mediterranen Welt in der Spätantike, Gnosis, vergleichende Studien zur Geschichte des Juden- und Christentums; neuere Veröffentlichungen: Hidden Wisdom: Esoteric Traditions and the Roots of Christian Mysticism (2. Aufl. 2005), The End of Sacrifice: Religious Transformations in Late Antiquity (aus dem Französischen, 2009), A New Science.The Discovery of Religion in the Age of Reason (2010).
Christoph Markschies
Professor für Ältere Kirchengeschichte an der HU, Ehrendoktorate und zahlreiche Mitgliedschaften in Akademien und Wissenschaftsorganisationen, Präsident der HU 2006-2010, seit 2012 Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Träger des Leibniz-Preises; vielfältige Forschungen zur antiken Religionsgeschichte, zur Gnosis; neuere Veröffentlichungen: Kaiserzeitliche antike christliche Theologie und ihre Institutionen (2007), Gnosis und Christentum (2009), hg. mit Johannes Zachhuber: Die Welt als Bild (2008), Wertsachen (2010), Zur Freiheit befreit (2011).
Hasia Diner
Professor of American Jewish History, New York University
The United States: The Jews‘ Promised Land and Their Land of Promises
Donnerstag, 29.11.2012, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Einführung: Prof. Dr. Lothar Müller
Was machte die USA und ihre Lebenswelt für die jüdischen Emigranten zum Gelobten Land: die Immigration, die in den 1820er Jahren im großen Stil begann und epochal mit mehreren Immigrationswellen ihren Fortgang nahm? Wie konnten die politischen, ökonomischen, demographischen und ethnischen Wirklichkeiten Amerikas für die europäischen Juden eine solche Anziehungskraft entfalten? Der Vortrag soll die inneramerikanischen Zusammenhänge in den Mittelpunkt rücken und Begründungen für die Tatsache aufzeigen, dass hundert Jahre lang, von den 1820er bis zu den 1920er Jahren, 85 % der jüdischen Emigranten sich für ein einziges Land entschieden: die Vereinigten Staaten von Amerika.
Hasia Diner ist Paul and Sylvia Steinberg Professorin für amerikanisch-jüdische Geschichte und Direktorin des Goldstein Goren Centers an der New York University; Forschungen insbesondere zur Immigration und Ethnogeschichte, zur Geschichte des amerikanischen Judentums und der Geschichte von Frauen in den USA. Veröffentlichungen u.a: In the Almost Promised Land: American Jews and Blacks (1995), The Jews of the United States 1654-2000 (2000), Lower East Side Memories: The Jewish Place in America (2000), mit Beryl Leif Benderly: Her Works Praise Her: A History of Jewish Women in America (2002), We Remember with Reverence and Love: American Jews and the Myth of Silence after the Holocaust (2009), ausgezeichnet mit dem National Jewish Book Award and dem Saul-Viener-Preis der American Jewish Historical Society.
Karl-Heinz Kohl
Professor für Ethnologie, Goethe-Universität Frankfurt a. M.
Heimat und Nomadismus. Anthropologische Perspektiven
Donnerstag, 06.12.2012, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Einer weit verbreiteten Vorstellung entgegen schweifen Nomaden nicht ziellos umher. Die Wanderungen klassischer nomadischer Gesellschaften sind vielmehr zyklischer Natur. Sie folgen geordneten Bahnen, die durch die wechselnden Jahreszeiten bedingt sind. Ihr „Gelobtes Land“ ist kein utopischer Ort, der in unbekannten Räumen oder fernen Zeiten liegt. Vielmehr wird „das Land, darin Milch und Honig fließt“ meist mit dem Land der Väter, mit der eigentlichen Heimat gleichgesetzt. Es ist der Ort, von dem man aufgebrochen ist und zu dem man immer wieder zurückkehrt, an dem man aber nicht für immer bleiben kann. In den globalen Migrationsbewegungen der Gegenwart hat diese archaische Konzeption eine unerwartete Wiederkehr erfahren. Das Leben in der Diaspora verlangt nach einem Ort, nach dem man sich sehnt und dem man sich zugehörig fühlt. Wie erträglich aber ist es dort, wenn man sich tatsächlich zur Rückkehr und zum Bleiben entschließt?
Karl-Heinz Kohl, Professor für Ethnologie, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Direktor des Frobenius-Instituts; Schwerpunkte der Forschung in Südostasien, Religionsethnologie, Wissenschaftsgeschichte, Xenologie; Kuratierung zahlreicher Ausstellungen; Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte (2003), The End of Anthropology? (2011), Mithg.: Der Kaiser und sein Forscher. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm II. und Leo Frobenius (2012), Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden (3. Aufl. 2012).
Jörg Armbruster & Laila Soliman
ARD Kairo, Damaskus & Kairo
Der Arabische Frühling – Wunschtraum oder Albtraum?
Donnerstag, 10.01.2013, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
In Ägypten zeichnet sich eine Entwicklung ab, die sich in anderen islamischen Ländern wie Tunesien, Syrien oder Marokko auch beobachten lässt. Fast in jedem dieser Länder sind die Islamisten die Gewinner der Revolutionen, die sie gar nicht begonnen hatten, und denen sie anfangs sehr skeptisch gegenüber standen. In Ägypten soll mit der neuen Verfassung die Sharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung werden; die höchste Instanz der Sunniten, die Al Azhar-Moschee, soll neben dem Verfassungsgericht das Schiedsgericht für die Gesetzgebung sein. Werden in Ägypten also in Zukunft die Gesetze von Predigern und nicht von Parlamentariern gemacht? Wohin entwickelt sich dieses Land? Wohin der Nahe Osten überhaupt? Was wird aus der so viel gelobten Revolution? Nach dem Frühling gleich der Winter? Jörg Armbruster, ARD-Korrespondent für den Nahen Osten mit Sitz in Kairo, wurde zum Zeugen dieser Zeitgeschichte; Laila Soliman, ägyptische Theaterdirektorin und Stückeschreiberin gehört mit ihren Arbeiten zu den Aktivisten der Revolution.
Jörg Armbruster studierte Sozialwissenschaften, Theater- und Sprachwissenschaft in Köln und unterrichtete an der dortigen Fachhochschule für Sozialwesen; über den Hörfunk von WDR und SWR kam er zum Fernsehen, wo er in den 1990er Jahren Leiter der Auslandsabteilung des SWR war und für die ARD bis 2010 den Weltspiegel moderierte; bekannt geworden ist er darüber hinaus durch seine Berichterstattung aus dem Irakkrieg und dem aktuellen Konflikt in Syrien, insbesondere durch seine Berichte und Kommentare aus Kairo bis Ende 2012.
Laila Soliman hat u.a. an der American University und der Deutschen Schule in Kairo gelernt und studiert; ihre Theaterproduktionen, u.a. The Retreating World (2004), At your Service (2009) und Lessons in Revolting (2011) wurden außer in Ägypten auch im Libanon, in Syrien und in Europa gezeigt; für Rimini Protokoll war sie als Dramaturgin tätig; 2009 erschien ihr Theaterstück Egyptian Products, 2011 in Theater der Zeit ihr Performancetext A Diary in Scenes; gegenwärtig arbeitet sie an einem Dokumentarstück über das Militär und die Polizei, der Titel: No Time for Art.