Herausforderungen der Demokratie
Die Hoffnung war, dass sich nach dem Ende des Kalten Krieges mehr und mehr Staaten mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ‚demokratisieren‘ würden. Seit der Jahrtausendwende wurden diese Erwartungen jedoch zusehends enttäuscht. Unter dem Druck grassierender Globalisierungsängste, mit dem Erstarken populistischer Bewegungen und im Zeichen von Wirtschafts- und Sicherheitskrisen scheint mittlerweile das zur Option geworden zu sein, was man als Autokratie beschreibt: eine Herrschaftsform, die auf Selbstermächtigung und Machtmonopolisierung gründet und die sich durch den Ausschluss des Anderen und Fremden konsolidiert. In der geopolitischen Strategieplanung der Demokratieforschung der 1990er Jahren wurde, zumeist im Auftrag westlicher Staaten, ein weltweiter Systemwechsel beobachtet. Die Vorstellungen vom Autokratismus im Anschluss an die Totalitarismus-Forschung der Nachkriegsjahre haben sich als wenig aussagekräftig erwiesen. Autokraten gelangen heute in populistischer Manier und nicht zuletzt mit Techniken und Praktiken neoliberaler Governance an die Macht. Einmal etabliert, wenden sie sich nicht vom Volke ab, sondern koppeln ihre eigene Berechtigung an messbare Erfolge wie Wohlstand, religiöse und moralische Erneuerungen oder expansive Macht. Autokratien kann man als Hybride verstehen, die die sozialen Systeme von Wirtschaft, Politik und Recht engst möglich verkoppeln. Es gilt, die historische und zeitgenössische Spezifik dieses Machttypus zu erfassen: die ‚elektorale Autokratie‘ im Rußland Wladimir Putins, Recep Erdogans Programm einer islamischen Präsidialautokratie, die Weiterentwicklung der iranischen Theokratie, die in der Volksrepublik China in Aussicht genommene digital gestützte Sicherung der Einparteienherrschaft, nicht zuletzt die verfassungsrechtlich bedenklichen autokratischen Tendenzen in Europa und in den USA.
Christoph Möllers
mit Philip Manow
Die autoritäre Revolte
Donnerstag, 08.11.2018, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Während die Sozialwissenschaften nach Erklärungen für den globalen Erfolg autoritärer Bewegungen suchen, wäre es noch einmal interessant, die Geste der wissenschaftlichen Erklärung selbst in diesem Zusammenhang zu untersuchen. An ihr fällt zum Ersten auf, dass sie die antiliberale politische Mobilisierung nicht beim Wort nimmt, sondern durch etwas Anderes zu erklären pflegt, etwa durch soziale Ungleichheit oder Verlustängste. Zum Zweiten verläuft die Argumentation zumeist so, dass die Erklärungslast der Krise liberaler Institutionen auferlegt wird, nicht ihrem bisherigen Erfolg. Dabei könnte es erstaunlicher sein, dass demokratische Rechtsstaaten so lange funktioniert haben, als dass sie jetzt zu zerfallen drohen. Zum Dritten schließlich wird der politisch-performative Gehalt sozialwissenschaftlicher Erklärungsmuster gerne unterschlagen, also der Umstand, dass sich jede Erklärung der Krise auch als politische Stellungnahme in dieser deuten lässt. Diese drei Faktoren könnten im Ergebnis dazu führen, dass sozialwissenschaftliche Erklärungsversuche einer politischen Auseinandersetzung um die Zukunft liberaler Demokratien eher im Wege stehen, als sie weiterzubringen.
Christoph Möllers ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Träger des Leibniz-Preises 2016; er ist als Bevollmächtigter und Berater verschiedener Institutionen in der Öffentlichkeit wirksam; zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: «Der vermisste Leviathan – Juristische Staatstheorie in der Bundesrepublik« (2008), »Demokratie – Zumutungen und Versprechen« (2008), »Die drei Gewalten« (2008), »Das Grundgesetz – Geschichte und Inhalt« (2009), »Die Möglichkeit der Normen – Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität« (2015).
Philip Manow ist Professor für Politikwissenschaften der Universität Bremen. 2018 erscheint sein Buch »Die politische Ökonomie des Populismus«.
Tania Martini über die Mosse-Lecture von Christoph Möllers in der taz vom 10.11.2018: „Wer über Populismus reden will”
Torsten Flüh über die Mosse-Lecture von Christoph Möllers auf Night out @ Berlin: „Vom Wandel der Verfassung und der Schrecken des Populismus″
Karl Schlögel
mit Ulrich Schmid
Russland-Versteher – Wenn es doch welche gäbe! Über eine neue Wirklichkeit und alt gewordene Kategorien
Donnerstag, 22.11.2018, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
1989 hieß es: Nichts bleibt, wie es war. Und alle stimmten dem spontan zu. Dass dem aber wirklich so ist, ist erst jetzt, ein Vierteljahrhundert später, wirklich angekommen. Die Redewendung, die dem Rechnung trägt, lautet: Die Welt ist aus den Fugen. In der großen Verwirrung, die auch Russland und unser Bild von Russland erfasst hat, ist ein Kampf um Deutungshoheit entbrannt, in dem es um nicht weniger als um »Verstehen« geht. Kein geringer Anspruch, wo es vielleicht zunächst um etwas anderes geht. Genau hinsehen.
Karl Schlögel, Professor emeritus, zuletzt Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Schwerpunkte seiner Forschung: Russland im 19. und 20. Jahrhundert, Zwangsmigration und Diaspora, Stadtkulturen in Osteuropa, Raum und Zeit als Probleme der Histographie. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: »Im Raume lesen wir die Zeit« (2003), »Petersburg 1909-1921. Laboratorium der Moderne« (1986), »Das russische Berlin« (2007), »Terror und Traum. Moskau 1937« (2008), »Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt« (2017).
Ulrich Schmid ist außerordentlicher Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, zudem ständiger freier Mitarbeiter im Feulleton der Neuen Zürcher Zeitung. Zuletzt erschien: »Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur« (2015) und »De profundis. Vom Scheitern der russischen Revolution« (2017).
Barbara Wurm über die Mosse-Lecture von Karl Schlögel in der taz vom 24.11.2018: „Mit und ohne Anführungszeichen”
Katajun Amirpur
mit Stefan Weidner
Theokratie ohne Theologen. Die Legitimationskrise des iranischen Gottesstaates
Donnerstag, 06.12.2018, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Der islamischen Theokratie Irans kommt nicht nur die Bevölkerung abhanden – 200.000 Iraner verlassen jährlich das Land – sondern auch die Theologen. Die theologische Kritik am Gottesstaat nimmt zu. Sie soll neben der gesellschaftlichen in diesem Vortrag eine zentrale Rolle spielen.
Katajun Amirpur ist Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Köln, zuvor an der Universität Hamburg, wo sie in der Leitung der Akademie der Weltreligionen tätig war; sie gehört zum Herausgebergremium der »Blätter für deutsche und internationale Politik«; in ihren Schriften und zahlreichen publizistischen Beiträgen nimmt sie Stellung zur Islamdebatte in Deutschland und informiert kontinuierlich über die politische Entwicklung im Iran, insbesondere über die Lebenswirklichkeit iranischer Frauen; Veröffentlichungen u.a.: »Die Entpolitisierung des Islam« (2003), »Schauplatz Iran« (2004), »Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte« (2013), »Der schiitische Islam« (2015), »Perspektiven dialogischer Theologie« (2016).
Stefan Weidner ist Autor, Übersetzer, Literaturkritiker und seit 2001 Chefredakteur der Zeit-schrift »Fikrun wa Fann/Art & Thought«, die vom Goethe-Institut für den Dialog mit der islami-schen Welt herausgegeben wird. Er hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt, darunter Adonis und Mahmud Darwisch. 2018 erschien seine Monographie »Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken«.