In verschiedenen Gestalten begleitet der Verlierer die Wege von Erfolg und Gewinnertum, unauffällig oder penetrant: als Gescheiterter und Versager, als Ohnmächtiger und Querulant, als Unglückseliger und Nichtstuer, als anspruchsloser oder lästiger Außenseiter. Nicht immer aber übernimmt der Verlierer die Position jener Unterlegenen, die zufällig, umständehalber oder mit allzu riskantem Einsatz im Spiel der Karrieren, Lebenschancen und Spekulationen, in sozialen, politischen und militärischen Kämpfen auf der Strecke geblieben sind. Viel mehr noch ist er zu einem inneren Bestandteil von Systemen geworden, die nur deshalb funktionieren, weil sie konsequent und zwangsläufig Verlustposten produzieren. So gibt es Verlierer der Modernisierung, Globalisierungsverlierer, Verlierer im Bildungssystem, Verlierer der Wiedervereinigung, Verlierer im Umbau von Sozialstaat und ökonomisch-politischen Regimes, Verlierer also, die als geradezu notwendiger fallout die Veränderung von Weltlagen charakterisieren. Diese Verlierer sind nicht einfach ausgeschlossen; in agonal strukturierten Systemen zeigen sie vielmehr die Knappheit jener Ressourcen an Macht, Einfluss, Leistung, Biegsamkeit, Funktionalität oder Hoffnung an, die den Takt des Mitspielens bestimmen. In dieser Hinsicht ist ihr Schicksal das mögliche Geschick aller, die Begegnung mit ihnen eine unbequeme Selbstbegegnung.
Die Mosse-Lectures im Wintersemester 2006/07 greifen dieses Thema auf, um aus verschiedenen – politischen, literarischen, kulturhistorischen, soziologischen Perspektiven Typologien und Fallbeispiele des Verlierertums zu versammeln. Hier kann von guten und schlechten Verlierern, von heroischen und aufständischen, von radikalen und strahlenden, von ordentlichen oder schlicht verzagenden Verlierern die Rede sein. Im Verlierer zeichnen sich nicht nur biographische Fallkurven ab, er liefert auch Programme und Stichworte für Aufruhr und Widerstand. Er mag allzu gut oder gar nicht integriert sein und greift den Status und den Diskurs der Gewinner nicht zuletzt dort an, wo er die Rolle des Opfers, des Besiegten von sich weist. So wollte man in den Straßenschlachten französischer Vorstädte einen Aufstand der Verlierer erkennen; und die Rede von einem clash of civilizations machte nur Sinn, sofern man von westlich-liberalistischer Seite aus die Kriegserklärung einer ‚Verliererkultur’ entziffern mochte. Der Verlierer: er ist Gegenstand von Sozialreportagen und Kulturdiagnosen, er bevölkert TV-Shows, wird in täglichen Kurswerten notiert und liefert noch die Strategeme für das, was man die neuen und asymmetrischen Kriege nennt. In all seinen Varianten und Wandlungen – vom echten und regelrechten Verlierer zu einem, der eben die Regeln nicht oder nicht mehr akzeptiert – gibt er Auskunft darüber, wie sich die Kraft, die Grenzen und die Brüchigkeit hegemonialer Ordnungen manifestieren.
Roger Willemsen
Autor
Der Knacks
Dienstag, 14.11.2006, 19 Uhr c.t., Senatssaal
Auf teils literarische, teils essayistische Weise spürt Roger Willemsen Ursituationen des Verlustes nach. Worin besteht, wenn sie besteht, die Verbindlichkeit im Scheitern? Im „Knacks“ manifestiert sich der Verlierer ohne Verluste. Die Erfahrung der Niederlage, der Exterritorialität organisiert seine Wahrnehmung des Politischen und bestimmt sein Bild des Gesellschaftlichen als Kränkung. Darin löst sich Gesellschaft zugleich auf.
Roger Willemsen, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Bonn, Florenz, München und Wien. Promotion 1984 mit einer Arbeit über die Dichtungstheorie Robert Musils, Dozent für Literaturwissenschaft an der LMU, seitdem tätig als Moderator und Regisseur für Funk und Fernsehen, Beiträge in den renommierten deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften.
Seit langem arbeitet Willemsen als amnesty-Botschafter und für „terres de femme“. Zuletzt erschie-nen von ihm: „Afghanische Reise“ und „Hier spricht Guantánamo“.
Video der Lecture auf sevenload.com, Teil 1
Christian Pfeiffer
Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen
Krise der Männlichkeit. Der Fall junger Männer
Dienstag, 23.01.2007, 19 Uhr c.t., Senatssaal
Seit Anfang der 1990er Jahre wird im Geschlechtervergleich eines immer deutlicher: männliche Jugendliche geraten zunehmend in das gesellschaftliche Abseits. Sie dominieren immer mehr bei den Schulabbrechern, den Sitzenbleibern, den Hauptschülern und jungen Arbeitslosen, bei rechten Gewalttätern, den Machos aus der Migrantenszene sowie den Computerspielsüchtigen. Die Mädchen und jungen Frauen dagegen liegen bei denen vorn, die schulisch und gesellschaftlich Erfolg haben. Der Vortrag zeigt anhand der Befunde von repräsentativen Schülerbefragungen auf, welche Erklärungen sich für diese Phänomene anbieten und stellt Vorschläge zur Diskussion, wie der problema-tischen Entwicklung begegnet werden soll.
Christian Pfeiffer, geb. 1944, studierte zunächst Rechtswissenschaften in München, anschließend Sozialwissenschaften und Kriminologie an der London School of Economics and Political Sciences; 1984/85 Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er war u.a. Initiator des ersten deutschen Modellversuchs zur Erprobung des Täter-Opfer-Ausgleichs im Jugendstrafrecht (Braunschweig) und im Allgemeinen Strafrecht, der Ausgangspunkt für mehr als 200 Nachfolgeprojekte wurde. Seit 1988 ist er Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, parallel dazu seit 1987 Universitätsprofessur für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug am Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hannover. Von 2000 – 2003 war er Niedersächsischer Justizminister
Ingo Schulze
Schriftsteller
Vom Glück des Verlierers. Geschichten und Kommentare
Dienstag, 06.02.2007, 19 Uhr c.t., Senatssaal
Ingo Schulze, geb. 1962, studierte Klassische Philologie (Altgriechisch, Latein) und Germanistik in Jena, 1983-88 war er Dramaturg am Landestheater Altenburg, 1990 Mitbegründer des „Altenburger Wochenblatt“ und „Anzeiger“; in St. Petersburg gründete er 1993 das erste kostenlose Anzeigenblatt „Priwet Petersburg“. Für seine literarischen Arbeiten erhielt er zahlreiche Preise, u.a. seit 2006 ist er Mitglied der Berliner Akademie der Künste und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtkunst in Darmstadt. Seine wichtigsten Bücher: 35 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter (1995), Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz (1998), Von Nasen, Fäden und Ariadnefäden (zus. mit Helmar Penndorf, 2000), Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa herausgegeben und kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze (2005).
Zur Zeit ist er Stipendiat der Villa Massimo in Rom.
Richard Sennett
Professor of Sociology
On Craftsmanship
Donnerstag, 15.02.2007, 19 Uhr c.t., Senatssaal
Handwerk wurde lange Zeit allein mit ausgebildeter manueller Fertigkeit in Verbindung gebracht. Hier jedoch soll handwerkliche Tätigkeit in einem erweiterten Sinne betrachtet werden: als eine besondere Beziehung zwischen Kopf- und Handarbeit. Und weiter gedacht: Welche Problemstellungen ergeben sich für den Soziologen aus dem Vorsatz, etwas gut machen zu wollen, um seiner selbst willen – Inspiration und Ethos des Handwerks, vorgedacht zum Beispiel von Thorstein Veblen, John Stuart Mill und Norbert Elias.
Richard Sennett ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Theoretiker der sozialen Welt, Stadtfor-scher und Soziologen. Er lehrt als Professor für Soziologie und Geschichte an der London School of Economics und ist Bemis Adjunct Professor of Sociology and Urban Studies am MIT. Seine in den letzten Jahren erschienenen Publikationen widmen sich vor allem den neueren Entwicklungen des Kapitalismus: The Culture of the New Capitalism, 2006 (dt. Die Kultur des neuen Kapitalismus, 2007); Respect in an Age of Inequality, 2003; The Corrosion of Character (dt. Der flexible Mensch), 1998. Sein 1994 erschienenes Buch Flesh and Stone (dt. Fleisch und Stein) ist längst zum Standartwerk geworden. Der Vortrag basiert auf Studien zu einem Buch, das den gleichen Titel tragen wird: On Craftsmansship. Sennett ist vielfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Amalfi und Ebert Preis für Soziologie. Er ist Fellow der American Academy of Arts and Sciences, der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der Academia Europea. Er war Präsident des American Council on Work und Direktor des New York Institute for the Humanities.