»Laufzeiten« sind nicht nur ein Problem, das die Gesellschaft mit ihrer Energieversorgung durch Atomkraftwerke hat. Im Zeichen globaler Wirtschaftskrisen, mit der Sorge um die Stabilität von Staaten und politischen Systemen und nicht zuletzt angesichts tief greifender demographischer Veränderungen wird der Blick zwangsläufig auf Vorgänge gelenkt, die den Bestand und die Dauer von Sprachen und Kulturen, deren Wandel, aber auch deren Endlichkeit und Untergang bestimmen. Transformationen oder ›Hybridisierungen‹ von Kultursystemen sind hiervon ebenso betroffen wie etliche Störfälle und Sackgassen der Evolution. Zu fragen ist nach den Interessen, Verfahren und Institutionen, die die kulturelle Reproduktion als Überlieferung, Vererbung oder Erinnerung garantieren. Medien und Künste, die Bildungsökonomie und – heutzutage besonders prominent – die transdisziplinären Lebenswissenschaften spielen hier eine wichtige Rolle. Wissenschaften und Kulturen wie auch die Politik nehmen die Dynamiken und Krisen der Reproduktion an sich selber wahr und fragen nach ihrer eigenen Haltbarkeit und Reproduktionsfähigkeit. Als Indizien dafür können die aktuellen Diskussionen über Fertilitätstechnologien, ›Anthropotechniken‹ oder demographische Krisen gelten.
In einer Reihe von fachwissenschaftlichen Vorträgen geben die Mosse-Lectures Gelegenheit, historische und aktuelle Fragen zum Thema der kulturellen Reproduktion zu stellen und nach Antworten zu suchen. Das Spektrum der Fragen umfasst die Kultur- und Sprachgeschichte, die Wissenschafts- und Kulturtheorie ebenso wie das aktuell formulierte Expertenwissen der Regierungsberater. Handeln wir auf der Grundlage des immer schon Verhandelten? Lösen die modernen Reproduktionstechniken das Reproduzierte von der Tradition gänzlich ab, wie Walter Benjamin meinte? Inwieweit steht die Reproduktionsfähigkeit der bestehenden Wissenschafts- und Kunstsysteme, der rechtlichen und religiösen Normgefüge in Frage? Wie stehen die Kulturtechniken der Reproduktion und das Wissen um die menschenmöglichen Eingriffe in die Evolution zu den ökonomischen und ökologischen Gegebenheiten der Gesellschaft? Werden angesichts der Zivilisationsschäden nicht auch Land und Meer ihre Rechte einfordern wie Völker und Staaten?
Paul Rabinow
Anthropologe, University of California, Berkeley
Anthropologie des Zeitgenössischen: Eine Rekonstruktion von Handeln, Macht und Moral in der synthetischen Biologie
Donnerstag, 18.11.2010, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
(Vortrag in englischer Sprache)
Mit Bezug auf Niklas Luhmanns Unterscheidung von Vertrautheit, Zuversicht und Vertrauen und John Deweys »Reconstruction in Philosophy« berichtet der Vortrag von einem Selbstversuch: von den Problemen, auf die ein Anthropologe stößt, wenn er den Versuch macht, als »teilnehmender Beobachter« die Forschungspraktiken und Risiken der synthetischen Biologie zu rekonstruieren. Der Vortrag thematisiert die unterschiedlichen Methoden und wechselseitigen Beziehungen zwischen den Biowissenschaften und den Humanwissenschaften: ein unausgeglichenes Machtverhältnis. Zu beobachten sind Gegensätzlichkeiten des forscherischen Verhaltens und verantwortlichen Handelns. Kann es dennoch im Luhmannschen Sinne ein »Systemvertrauen« geben, mit dem nach der Risikobewältigung, nach dem nächsten Schritt gefragt wird, der zu gehen ist?
Paul Rabinow, Professor für Anthropologie an der UC Berkeley, studierte an der University of Chicago und an der École Practique des Hautes Études in Paris. Seine Forschungsarbeiten haben ihren gemeinsamen Fokus in der Modernität als Problem, das sich ihm in der marokkanischen Feldforschung ebenso stellt wie in den Beziehungen von Wissen und Macht in der französischen Sozialplanung bis hin zu den Arbeiten im letzten Jahrzehnt zu den Lebenswissenschaften.
Publikationen u.a.: Anthropos Today. Reflections on Modern Equipment (2003); Marking Time. On the Anthropology of the Contemporary (2007); »Concept Work« in Genetics and Social Sciences (2007); mit G. Marcus: Designs for an Anthropology of the Contemporary (2008). Auf Deutsch sind 2004 erschienen: Was ist Anthropologie? und Anthropologie der Vernunft. Für 2011 ist angekündigt: The Accompaniment: Assembling the Contemporary.
Hans-Jörg Rheinberger
Molekularbiologe und Wissenschaftshistoriker Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
Differenzmaschinen. Über Reproduktion in den Wissenschaften
Donnerstag, 02.12.2010, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Der Vortrag wirft Schlaglichter auf die Dynamik des modernen Wissenschaftsprozesses. Identität und Widerspruch waren lange Zeit Kategorien, in denen historische Bewegungen ge-dacht wurden. In diesem Vortrag soll mit Gilles Deleuze der Versuch gemacht werden, Reproduktion und Differenz ins Zentrum der Vorstellung von Entwicklungsprozessen zu rücken: von denjenigen, die nicht auf Zielvorwegnahme beruhen, sondern sich als „von hinten getrieben“ erweisen, wie Thomas Kuhn es einmal formulierte. Beispiele aus der Geschichte der Wissenschaften sollen diesen theoretischen Zugriff verdeutlichen.
Hans-Jörg Rheinberger ist Professor und Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Gastprofessor u.a. an der ETH Zürich, in Salzburg und Innsbruck. Forschungsaufenthalte an der Stanford University und am Wissenschaftskolleg zu Berlin, Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldiana. Habilitiert als Molekularbiologe arbeitet er haupt-sächlich zur Wissenschaftsgeschichte mit Schwerpunkten zur Geschichte und Epistemologie des Experiments und der Molekularbilogie und zur Proteinbiosynthese.
Veröffentlichungen u.a.: Experimentalsysteme und epistemische Dinge (2001); Iterationen (2005); Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie (2006); Historische Epistemologien zur Einführung (2007); mit Staffan Müller-Wilde: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts (2009).
Carlo Ginzburg
Kulturhistoriker, Universität Pisa, UC Los Angeles
Duplication as Distance. A Case Study
Donnerstag, 09.12.2010, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
(Vortrag in englischer Sprache)
Anschließend Gespräch mit Larraine Daston.
Als Bestandteil einer größeren, im Entstehen begriffenen Forschungsarbeit setzt der Vortrag ein mit dem Buch des deutschen Humanisten Erasmus Alberus Barfüsser Mönche Eulenspiegel und Alkoran von 1542. Dieses auch in französischer und lateinischer Übersetzung verbreitete Buch hat man oft als die Parodie eines mittelalterlichen Traktat angesehen: Bartholomäus von Pisas Liber confirmitatum (Über die Gleichförmigkeit). Aber was ist eine Parodie? Lässt die Parodie auch auf eine bestimmte Haltung der historischen Distanz schließen? Mit der hier vorgestellten Fallstudie soll aus einem eher ungewöhnlichen Blickwinkel ein derzeit vielfach diskutiertes Problem zur Sprache kommen: die Frage nach den Ursprüngen der modernen Wissen-schaft (oder Geschichte) der Religionen und ihrer vielfältigen Beziehungen.
Carlo Ginzburg hat einen Lehstuhl für Neuere Geschichte an der Universität von Bologna und ist zugleich Professor of Italian Renaissance Studies an der UC Los Angeles und Professor an der Scuola Normale Superiore in Pisa. Mit seinen Arbeiten zu einer neuartigen Kulturwissenschaft (Stichwort „Mikrogeschichte”) wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Aby-Warburg-Preis der Stadt Hamburg (1999), dem Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung (2008) und dem international hoch angesehenen Balzan-Preis (2010).
Von seinen zahlreichen Werken in italienischer und deutscher Sprache sind auf Deutsch erschienen u.a.: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600 (1979); Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst (1995); Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte (1990); Holzaugen. Über Nähe und Distanz (1999); Erkundungen über Piero della Francesca (Taschenbuch 1999); Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis (2001).
Lorraine Daston ist Professorin und Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, als Gast-dozentin war und ist sie tätig u.a. an der Harvard University, Stanford University, University of Oxford und der Humboldt Universität. Sie ist Fellow der American Academy of Arts und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie.
Veröffentlichungen u.a.: Mit Katharine Park: Wonders and the Order of Nature 1150-1750 (1998); Classical Probability in the Enlightenment (1998); Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität (2001); mit Peter Galison: Objectivity (2007); mit Michael Stolleis (Hg.) Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe (2000).
Suzanne Romaine
Merton Professor of English Language, University of Oxford
Vanishing Voices: where have all the languages gone and what does it mean for cultural diversity
Donnerstag, 20.01.2011, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
(Vortrag in englischer Sprache)
Einführung und Moderation von Rainer Dietrich.
Für die kulturelle Vielfalt ist Sprache eine entscheidende Größe, weil praktisch alle we-sentlichen Aspekte menschlicher Kultur von der Klassifikation der Verwandtschaftsbezie-hungen bis zur Religion von der Sprache als vermittelndem Medium abhängig sind. Kul-turelle Vielfalt ist gefährdet, wenn Sprachen aussterben. Wenn die Prognose stimmt, dass bis zum Ende dieses Jahrhunderts bei fortschreitender Globalisierung 50 bis 90 % der auf der Welt existierenden 6900 Sprachen ausgestorben sein werden, dann bedeutet dies, dass die kulturelle Diversität in dem Masse zurückgeht wie die sprachliche Vielfalt. Zugleich sind wir Zeugen eines erheblichen Rückgangs der biologischen Artenvielfalt. Ohne hier einen direkten Zusammenhang nachweisen zu können, lässt sich doch beobachten, dass Sprachen und Arten in den gleichen Gegenden der Welt vom Aussterben bedroht sind, wobei das Risiko für die Sprachen um einiges größer ist als für die Pflanzen- und Tierwelt. Wenn in den potenziell gefährdeten Regionen eine bestimmte Interdependenz zwischen dem Verlust an Sprachen und Artenvielfalt und der zugehörigen Kultur festzustellen ist, dann müssen aufeinander abgestimmte Strategien entwickeln werden, die das Überleben menschlicher und biologischer Vielfalt sichern.
Suzanne Romaine ist seit 1984 Merton Professor of English Language an der University of Oxford, zahlreiche Gasteprofessuren; Fellow am Behavioral Sciences Center in Stanford (2004/2005), Forschungsarbeiten in Australien, den USA und Papua Neu Guinea, Mitglied der UNESCO Expert Group Education in a Multicultural World (2003); Veröffentlichungen u.a. Language in Society (1994), Cambridge History of the English Lanuage 1776-1997 (1998) , Communicating Gender (1999). Das gemeinsam mit Daniel Nettle verfasst Buch Vanishing Voices. The Extinction of the World’s Languages (2000) wurde in sechs Sprachen übersetzt.
Rainer Dietrich ist Professor em. am Institut für deutsche Sprache und Linguistik der Humboldt-Universität und Honorarprofessor an der Universität Heidelberg; zahlreiche Publikationen zur Sprachverarbeitung, zur Psycholinguistik und zum Zweitspracherwerb u.a. Modalität im Deutschen (1992), Psycholinguistik (2. Aufl. 2007), Mhg.: Group Interaction in High Risk Environments (2004), Mhg.: Teaming Up. Components of Safety and High Risk (2004)
Ulrike Ottinger
Filmemacherin, Berlin
Bamboo-Telefon und Gelbe Post
Donnerstag, 03.02.2011, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Einführung und Gespräch: Dirk Naguschewski, Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin
Auf der Flucht vor Verfolgung und Tod war Shanghai für die Juden aus Deutschland, Österreich und Russland, deren Lebensgeschichten Ulrike Ottinger rekonstruiert, der »allerletzte Ort«. Ihr Film und ihr Hörspiel Exil Shanghai sowie die begleitenden Texte und Ausstellungen zeigen Entsprechungen und Bilder der exterritorialen Wirklichkeit der Emigranten in der seither entstehenden Großstadtmoderne Chinas. Ihre ›poetische Kamera‹ entdeckt die in Shanghais Völkergemisch reproduzierte Kultur und Lebenswelt von Wien und Berlin. Im Dickicht der Sprachen hieß bereits eine 1937 erschiene Schrift von Adolf Josef Storfer, des Leiters des Psychoanalytischen Verlages in Wien, der 1938 nach Shanghai emigrierte und hier die »Gelbe Post« herausgab: eine Exilzeitschrift und subtile Chronik jener vergangenen Gegenwart, die Ulrike Ottinger in ihrem Film als mise-en scéne einer widersprüchlichen Lebenswelt aufscheinen lässt.
Ulrike Ottinger ist Filmemacherin, Fotografin, Regisseurin, Autorin. Zu ihren bekanntesten und oft preisgekrönten Dokumentar- und Spielfilmen gehören außer Exil Shanghai (1997): Freak Orlando (1981), Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984), Prater (2007) und zuletzt Die koreanische Hochzeitstruhe. In Vorbereitung sind die Filme Unter Schnee sowie Die Blutgräfin mit Tilda Swinton und Isabelle Huppert in den Hauptrollen. Ausstellungen und Retrospektiven u.a. auf der Documenta 11, den Biennalen von Berlin und Shanghai, dem Centro de Arte Reina Sofia in Madrid, dem MoMa in New York und dem Centre Pompidou, Paris.
Dirk Naguschewski ist promovierter Romanist und Bereichsleiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin; im Anschluss an seine Dissertation zahlreiche Publikationen zur Sprache und Kultur des frankophonen Afrika, zum afrikanischen Kino, zur Fremdeforschung und zu den Gender Studies.