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Dramen des Entscheidens

Sommersemester 2024

Vom Alltag bis zum ›Lebensweg‹: Entscheidungen sind Einschnitte in der Zeit, die regelmäßig zu Wendepunkten für das individuelle Leben werden. Ohne Entscheidungen ist der Mensch nicht lebensfähig. Über das Individuelle hinaus sind Entscheidungen kommunikative Akte, die kulturellen, institutionellen und politischen Regeln folgen. Diese Regeln legen fest, was überhaupt als Entscheidung gilt, wie darüber gesprochen wird und vor allem: wer unter welchen Bedingungen entscheiden kann. Entscheidungen sind also weder nur alltäglich, noch ist selbstverständlich, dass Menschen Entscheidungen treffen. Entscheidungen sind das Resultat ihrer sozialen Hervorbringung und damit eine Form gesellschaftlichen Handelns, die sich historisch verändert und das Selbstverständnis moderner Gemeinwesen als »Entscheidungsgesellschaften« (Uwe Schimank) grundlegend bestimmt.

Allerdings begegnen Entscheidungen immer wieder dem Problem ihrer Begründung angesichts begrenzter Ressourcen auf der einen und einer (quantitativen) Zunahme von Entscheidungsprozessen im Zuge einer »reflexiven Modernisierung« (Ulrich Beck) auf der anderen Seite. Entscheidungen lassen sich als ein Abwägen von Handlungsmöglichkeiten verstehen, das hilft, angesichts einer Vielzahl möglicher Ausgänge ein Ende zu bestimmen und zu begründen. Was damit in den Blick gerät, ist neben der Ereignishaftigkeit des Dezisionismus vor allem die zeitliche Dimension von Entscheidungsprozessen. Gerade die andauernden politischen Krisen der Gegenwart zeigen eine Dramatisierung solcher Entscheidungsprozesse, deren Ausgang nicht ›gewiss‹ sein kann und in der die Langsamkeit demokratischer Verfahren zunehmend auf die Forderung entschiedenen Handelns trifft.

Im Sommersemester 2024 erkunden die Mosse Lectures Entscheidungen als kulturelle, soziale und politische Praxis: Unter welchen Bedingungen wird entschieden und was muss vorausgesetzt sein, damit wir eine Entscheidung als solche wahrnehmen und benennen können? Wie wurden Entscheidungen kulturell gerahmt und metaphorisiert, welche Mythen und Erzählungen machen Akteure zu ›Entscheidern‹ und Institutionen zu Orten der Entscheidung? Welche Rolle spielt der Zufall in Entscheidungsprozessen? Wie verändern sich Entscheidungen in ihren Bedingungen und Grenzen, wenn sie zunehmend an digitale Technologien delegiert werden? Und wie lässt sich schließlich die Verweigerung von Entscheidung als entschiedener Protest und politischer Widerstand begreifen?


Barbara Stollberg-Rilinger

Entscheiden als Kulturtechnik

mit Lothar Müller

Donnerstag, den 02. Mai 2024 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin

Entscheiden ist nicht selbstverständlich, ja es ist nicht einmal wahrscheinlich. Ein Blick in die Frühe Neuzeit macht durch den Kontrast etwas sichtbar, was uns heute so selbstverständlich erscheint, dass wir es kaum noch wahrnehmen, nämlich die Annahme, alles Handeln beruhe im Normalfall auf Entscheidungen. Dagegen lautet die These des Vortrags: Ob und inwiefern eine Situation als Entscheidungssituation gerahmt, modelliert, inszeniert, wahrgenommen und gedeutet wird, ist variabel und kulturabhängig. Mit anderen Worten: Das Entscheiden hat eine Geschichte. Es ist eine historisch unterschiedlich ausgeformte und gehandhabte Kulturtechnik.

BARBARA STOLLBERG-RILINGER: Historikerin, bis 2021 Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster; seit 2018 Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin; von 2015 bis 2019 leitete Stollberg-Rilinger das Teilprojekt »Entscheidungen durch das Los in Mittelalter und Früher Neuzeit« im SFB »Kulturen des Entscheidens« an der Universität Münster; ihre Forschungsschwerpunkte sind die Kulturgeschichte des Politischen in der Frühen Neuzeit, vor allem der politischen Metaphern und Symbole, Rituale und Verfahren, die Ideengeschichte der Aufklärung sowie die Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation; zuletzt erschien die Biographie »Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit« und der gemeinsam mit André Krischer herausgegebene Sammelband »Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin«.

Dieter Thomä

Ich war’s! Keiner ist es gewesen! Zur Dramatisierung und Entdramatisierung von Entscheidungen

mit Ethel Matala de Mazza

Donnerstag, den 23. Mai 2024 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin

Zu beobachten sind derzeit zwei gegenläufige Bewegungen: Einerseits kommt es zu einer Dramatisierung der Selbstverantwortung und der Wahlfreiheit der Individuen. Andererseits wird der Entscheidungsspielraum der Individuen eingeschnürt – unter Verweis auf Strukturen und Prozesse, die dem Zugriff entzogen sind. Das heißt: Neben den Ichzwang tritt der Sachzwang, neben die Ermächtigung die Entmachtung. Diese zeitdiagnostischen Beobachtungen finden ihre Entsprechung in systematischen Befunden aus Handlungstheorie und Sozialphilosophie. Zur Dramatisierung von Entscheidungen gehören gewisse Theorien individueller Freiheit und Entbettung, zu deren Entdramatisierung Theorien des Determinismus und der Einbettung des Individuums. Dieser Vortrag skizziert eine Kritik an jener Doppelung in zeitdiagnostischer wie auch in systematischer Hinsicht und entwickelt ein Handlungs- und Entscheidungsmodell, das von Narratologie und Genealogie inspiriert ist.

DIETER THOMÄ: Philosoph, bis 2023 Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen; seit 2003 ist er Mitherausgeber der Reihe »Zur Einführung« des Junius Verlages; Thomä war Fellow u.a. am Wissenschaftskolleg zu Berlin, am Institute for Advanced Study in Princeton sowie Gastprofessor an der Brown und an der Yale University; seine Arbeitsschwerpunkte sind die Sozialphilosophie, Ethik, Kulturphilosophie, politische Philosophie und Phänomenologie sowie – in all diesen Bereichen – die sokratische Frage, »wie zu leben sei«; Dieter Thomä ist Autor zahlreicher Monographien, die in mehrere Sprachen übersetzt worden sind.

Marietta Auer

Aporien moderner Entscheidungsfreiheit: Liberales Paradoxon und digital konditioniertes Subjekt

mit Michael Kämper-van den Boogaart

Donnerstag, den 20. Juni 2024 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin

Der Vortrag beleuchtet das Drama des kollektiven Entscheidens in den liberalen Demokratien des Westens aus zwei Blickrichtungen. Zum einen ist seit einiger Zeit vermehrt zu beobachten, dass sich über grundlegende Fragen des Zusammenlebens kein Konsens über gemeinsame Werte und Interessen mehr erzielen lässt. Dabei handelt es sich nicht um ein neues Phänomen, sondern um das klassische „liberale Paradoxon“: Liberale Demokratien besitzen keine übergeordnete Entscheidungsregel, um einen Konsens über den Gegenstand des politischen Konsenses herzustellen. Probleme der Art „Wieviel Freiheit den Freiheitsfeinden?“ prägen daher nicht zufällig den öffentlichen Diskurs. Zum anderen erfahren gerade diese fundamentalen Entscheidungsprobleme der liberalen Demokratien in den Echokammern des Internets eine fatale Selbstverstärkung. Kollektive Entscheidungsprozesse kranken heute nicht mehr nur an der Inkommensurabilität individueller Selbstentwürfe, sondern vielmehr an der digitalen Konditionierung des öffentlichen Diskurses, der seine Funktion als Forum kollektiver Rationalität nicht mehr erfüllen kann. Digital konditionierte Subjekte tragen dazu bei, die Institutionen der liberalen Gesellschaft zu untergraben und die Sprengkraft des liberalen Paradoxons zu potenzieren.

MARIETTA AUER: Rechtswissenschaftlerin, Direktorin des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie; von 2013–2020 Professorin für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen; Auer war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und erhielt 2022 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft; ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Privatrecht und den multidisziplinären Grundlagen des Rechts, in der soziologischen und philosophischen Ideengeschichte des Privatrechts, der Privatrechtstheorie und der Rechtsdogmatik des bürgerlichen Rechts; zuletzt erschien der Band »Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie«.

Steffen Mau

Keine Zeit. Zum Verhältnis von politischen Entscheidungen und sozialem Wandel

mit Ulrike Vedder

Donnerstag, den 04. Juli 2024 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin

Die Organisation und Bewältigung beschleunigten sozialen Wandels setzen Gesellschaften unter Stress. Anders als in relativ statischen Gesellschaften mit etablierten Arrangements und Befriedungsformeln, brechen in Wandlungsgesellschaften viele Konflikte auf. Zugleich steht die Politik unter Zugzwang, schnell Entscheidungen zu treffen und Weichenstellungen vorzunehmen, will sie nicht vom Lauf der Dinge überrollt werden. Der Vortrag thematisiert das Verhältnis von politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Veränderungen. Er diskutiert die Probleme früher wie auch verschleppter Entscheidungen und die unterschiedliche Taktung von Gesellschaft und Politik. An den Beispielen der ostdeutschen Transformation ab 1989 und der sozialökologischen Transformation werden die Voraussetzungen, die Begleiterscheinungen und die langfristigen Folgen von politischen Entscheidungen verdeutlicht.

STEFFEN MAU: Soziologe, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin;  er war 2022/23 Mitglied in der Arbeitsgruppe »Zukunft der Arbeit« an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie in  der Jury für den Standortwettbewerb für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation und erhielt 2021 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft; er forscht u.a. zur sozialen Ungleichheit, zur Transnationalisierung, zur europäischen Migration und Integration, zur politischen Soziologie, zur Soziologie der Grenze und der Digitalisierung; zuletzt erschien (gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser) der Band »Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft«.