Der Begriff des Liberalismus verweist nicht nur auf eine der einflussreichsten politischen Traditionen Europas und der westlichen Welt. Er umfasst auch eine Vielfalt von Positionen, Denkformen, Mentalitäten, Praktiken und Programmen, die kaum mit einem einheitlichen Begriffsformat zu fassen sind. Seit seiner Entstehung im achtzehnten Jahrhundert versammelt der ›Liberalismus‹ ein spannungsreiches Konglomerat aus politischen Versprechen von Freiheit und Emanzipation, von Staats- und Rechtskonzepten, Freihandels-abkommen, Marktutopien, Menschheitsvisionen und Erziehungsprojekten. ›Bildung‹ als Inbegriff aller liberalen Bestrebungen war das Ideal der verlegerischen Unternehmungen der Familie Mosse und des Historikers George L. Mosse, denen diese Veranstaltungsreihe gewidmet ist.
Historisch war der Liberalismus Schauplatz politischer und sozialer Konflikte in Abgrenzung von autoritären und restaurativen Tendenzen ebenso wie von sozialistischen Bewegungen. Zu seinem Konfliktpotential und Ideenreservoir gehören die Fragen nach der wechselseitigen Abmessung von Freiheit und Gleichheit, von Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit, von Eigentumsrechten und Gemeinwohl.
So sehr sich der deutsche Ordoliberalismus der Nachkriegszeit noch in Kapitalismuskritik übte und nach dritten Wegen zwischen Laissez-faire und Planwirtschaft suchte, so wenig Zweifel besteht daran, dass die neoliberalistischen Dogmen seit den 1970er Jahren wesentlich zur Durchsetzung des gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus beitrugen. Aktuell ist zu fragen nach den Konsequenzen der im Namen des ›Liberalismus‹ verfolgten finanz-ökonomischen, ökologischen und globalen Umwälzungen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob ein eher als überholt geltender und dennoch weltpolitisch forcierter Liberalismus heute noch Lösungen zu bieten hat für Probleme, die er selber nicht mehr zu stellen vermag, schon gar nicht für die nicht westlichen Länder.
Christoph Menke
(Frankfurt am Main) mit Joseph Vogl (HU)
»Im Schatten der Verfassung. Die Voraussetzungen des Liberalismus«
Donnerstag, 20.04.2017, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Der Liberalismus ist eine Theorie und Praxis der öffentlichen Ordnung, die das Gemeinwesen auf einen ganz anderen Grund stellt als alle Konzeptionen, die ihm geschichtlich vorhergehen (und ebenso die, die sich ihm entgegensetzen). Der Liberalismus geht vom Faktum der individuellen Freiheit aus; die Freiheit des Einzelnen gilt ihm als eine Tatsache, die er voraussetzt. Aber genau darin gründet zugleich die Krise des Liberalismus, auf deren Aufweis seine Kritik zielt. Diese Kritik will zeigen, dass sich der Liberalismus in ein Dilemma verstrickt. Er setzt die Freiheit voraus, aber er kann sie mit seinen eigenen Mitteln, den Mitteln des liberalen Rechts, nicht sicherstellen. Damit setzt die liberale Ordnung eine expansive Tätigkeit des Regierens frei, die nicht mehr der liberalen Form des Rechts entspricht. Die liberale Ordnung unter- und überschreitet sich permanent selbst.
Christoph Menke, Professor für praktische Philosophie mit besonderem Schwerpunkt der politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; Menke zählt zu den Vertretern der sog. »Dritten Generation« der Frankfurter Schule; neuere Monographien: »Die Gegenwart der Tragödie« [2005], »Kritik der Rechte« [2015], mit Arnd Pollmann: »Philosophie der Menschenrechte« [2007], »Die Kraft der Kunst« [2013], im Exzellenzcluster »Normative Orders« der Universität Frankfurt leitet er das Projekt »Normativität und Freiheit«.
Colin Crouch
(Warwick, UK) mit Ulrike Vedder (HU)
»Antworten des Liberalismus auf die neuen Herausforderungen«
Donnerstag, 04.05.2017, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Die neuen Wellen von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, die in letzter Zeit so viele Länder erfasst haben, bringen die alten Konflikte zwischen der liberalen Aufklärung und den aggressiven Seiten des Konservatismus zurück. Der Konflikt zeigt, wie das, was man unter ‚Liberalismus‘ versteht, in sich selber widersprüchlich ist. Neoliberale in verschiedenen Ländern finden sich wieder in Allianzen mit unterschiedlichen Varianten des Rechtspopulismus. Man kann beobachten, dass im linken Spektrum die Versuchung aufkommt, die sozialpolitische Agenda fremdenfeindlicher Parteien aufzugreifen. Wie verändern sich die politischen Ideen, Parteien und Allianzen der Liberalen angesichts dieser Herausforderungen?
Der Soziologe und Politikwissenschaftler Colin Crouch ist Professor Emeritus der University of Warwick in Großbritannien und auswärtiges Mitglied des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Er hat auf dem Gebiet der vergleichenden europäischen Soziologie, der Wirtschaftssoziologie und industriellen Beziehungen gearbeitet und auch zu aktuellen Fragen der britischen und europäischen Politik publiziert. In dt. Übersetzung liegen vor: »Die Postdemokratie« [2008]; »Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus« [2011]; »Jenseits des Neoliberalismus« [2013]; »Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht« [2015]; zuletzt erschienen: »Governing Social Risks in Post Crisis Europe« [2015] und »Society and Social Change in 21st Century Europe« [2016].
Kommentar zu Colin Crouchs Mosse-Lecture:
Dieter Langewiesche
Tübingen
»Bildungsliberalismus – historische Reflexionen«
Donnerstag, 18.05.2017, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Unter Bildungsliberalismus wird entlang der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ein Problem erörtert, das heute wieder aktuell geworden ist: Wie offen sollte eine liberale Gesellschaft für religiöse Pluralität sein? Erzwingt Bildung, wie sie in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert verstanden wurde, kulturelle Anpassung bis zur Aufgabe von Herkunftsidentität? Im 19. und frühen 20. Jahrhundert standen vor allem Juden vor dieser Frage. Was hatte ihnen der Bildungsliberalismus zu bieten? Was dachten sie darüber? Diese Fragen, die in intensiven innerjüdischen Kontroversen diskutiert wurden, werden auf den Spuren von George L. Mosse untersucht.
Dieter Langewiesche ist Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Tübingen; Autor wegweisender Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung, des Nationalismus und Liberalismus u.a. »Liberalismus in Deutschland« [1988, 1995], »Liberalismus und Sozialismus: Gesellschaftsbilder – Zukunftsvisionen – Bildungskonzepte« [2003], »Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa« [2000], »Reich, Nation, Föderation: Deutschland und Europa« [2008], mit Niels Birbaumer »Neurohistorie. Ein neuer Wissenschaftszweig?« [2017], Träger des Leibniz-Preises und des Bundesverdienstkreuzes am Bande.
Jost Hermand
Madison
Jubiläums-Vortrag: »Die Mosses – drei Generationen des deutsch-jüdischen Liberalismus«
Donnerstag, 01.06.2017, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Unter den aus dem Osten kommenden, nach Besitz und Bildung strebenden und sich zu Beginn des Zweiten Kaiserreichs in Berlin niederlassenden Juden zeichnete sich vor allem Rudolf Mosse durch einen bekennerischen Liberalismus aus. Als Zeitungsgründer, großzügiger Mäzen und religiöser Reformer vertrat er eine Haltung, die den damaligen Fortschrittlern und Freisinnigen entsprach. Sein Schwiegersohn Hans Lachmann-Mosse versuchte diese Tradition fortzusetzen, wurde jedoch 1933 von den Nazis aus Deutschland vertrieben. Erst seinem Sohn George L. Mosse gelang es, sich als Historiker in den USA erneut dafür einzusetzen, worin er den liberalen Trend innerhalb der deutsch-jüdischen Symbiose sah.
Jost Hermand, William F. Vilas Research Professor für deutsche Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte an University of Wisconsin, Madison, Honorarprofessor an der HU Berlin; zahlreiche Monographien zur deutschen Literaturgeschichte, zu Heinrich Heine, Bertolt Brecht, zur Kunst- und Musikgeschichte und zum Judentum in der deutschen Literatur, zuletzt: »Politische Denkbilder« [2011], »Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus« [2012], »Vorbilder. Partisanenprofessoren im geteilten Deutschland« [2014], »Das liebe Geld! Eigentumsverhältnisse in der deutschen Literatur« [2015], »Grüne Klassik. Goethes Naturverständnis in Kunst und Wissenschaft« [2016].