Die Rede von der Posthistoire ist selber historisch geworden. Auch die von der unvollendeten Vergangenheit als Versprechen für die Zukunft. Der Gedanke daran, wie etwas geworden ist, scheint verloren in der Allgegenwärtigkeit alltäglicher Meinungen und Gefühle ebenso wie in der grenzenlosen Dynamik digitaler Gedächtnisse. Vergangenheit wird zur permanenten virtuellen Gegenwart, „Nostalgia for the present“, wie Fredric Jameson schreibt. Gleichwohl ist alles Frühere in Mode: „la mode rétro“ als Lust am Text der Vergangenheit in vielfachen Formaten und auf allen Kanälen. Konjunktur haben unter diesen Bedingungen die medial aufbereiteten Rückblicke: Retrospektiven und Revisionen, das Revirement von Vergangenheiten unter den realen Bedingungen des Vergessens in der aktuellen Informationsgesellschaft. Welche neuen Formen der Wiederholung/Wiederauf-nahme, des re-writing, der Inszenierungen und der Maskeraden vergangenen Wissens gibt es und kann es geben? Wie können die alten Speichermedien Buch, Bibliothek, Zettelkasten und Archiv ihr Wissenspotential und ihre implizite Wertbeständigkeit nutzen zur (Re)Generierung von Wissen, Wahrnehmung und Erfahrung? Wie ist die neuerliche Faszination am Antiquarischen übertragbar und umsetzbar in Techniken und Verfahren, die den verbürgten Wertekanon bearbeiten? Was lesen wir in den Quellen, Zeugnissen und Akten, denen ein Franz Kafka sich libidinös verschrieben hatte? Was gilt die Temporalisierung von Vergangenheit unter den Auspizien der Nachträglichkeit, des Futur II, „es wird gewesen sein“.
Andreas Huyssen
Villard Professor of German and Comparative Literature, Columbia University New York
Transnationale Verwertungen des Holocaust
Mittwoch, 21.05.2008, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6
Das territorial und national gebundene Konzept kollektiver Erinnerung verfehlt die gegenwärtige Praxis transnationaler Aneignungen eines medial zirkulierenden Holocaust Diskurses, der sich in diverse politisch und historisch anders gelagerte Traumageschichten eingeschrieben hat. Der Vortrag schlägt vor, den Blick auf Verwertungen des Holocaust Diskurses zu lenken, die weltweit, aber jeweils spezifisch lokal mit einander widersprechenden, aber gleichzeitig voneinander abhängigen Verflechtungs- und Überbietungsstrategien operieren. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei das Verhältnis von transnationalem Holocaust Diskurs und der Erinnerung an koloniale Herrschaft in Theorie und Praxis des Postkolonialismus.
Elena Esposito
Soziologin, Schriftstellerin und Dozentin an der Universität Modena und Reggio Emilia
Finanzwirtschaft und Gesellschaft: Zukunft aus den Daten der Vergangenheit
Donnerstag, 05.06.2008, 19 Uhr c.t., Hörsaal 1.101, Hegelplatz 2
Wie der Name selbst zeigt, steht die Neuzeit für das Neue, die Zukunft, die Variation, im betonten Kontrast zu den traditionellen Gesellschaften, wo Neuheit nur als Störung und Behinderung galt. Eben dies jedoch führte zu einer eigentümlichen Einseitigkeit; einerseits die abstrakte Vorstellung, die Zukunft habe schon längst begonnen, andererseits die oft unreflektierte Sehnsucht nach der Vergangenheit und ihren Lebensformen. Der Vortrag will zeigen, wie die Neu-Zeit unserer Gesellschaft komplexer verstanden werden kann und muss. Die Perspektiven der Vergangenheit und der Zukunft sind von verschiedenen Gegenwarten aus zu unterscheiden, die im Lauf der Zeit aufeinander folgen und sich verwickeln, so dass der Zukunftshorizont der Gegenwart (die gegenwärtige Zukunft) beeinflusst, was künftig gegenwärtig sein und vermutlich anders sein wird als wir es heute erwarten. Die Finanzmärkte zeigen, wie diese Verflechtung von Zeitebenen in den Operationen unserer Gesellschaft schon aktiv ist und konkret erlaubt, Profite zu erwirtschaften. Um Gewinne zu machen, braucht man nicht zu erraten, was sich künftig realisieren wird, man muss nur genau beobachten, was heute, in der gegenwärtigen Zukunft, erwartet wird.
Christoph Ransmayr
Lesung und Gespräch mit Professor Wendelin Schmidt-Dengler, Universität Wien
Blicke zurück und in die Ferne
Donnerstag, 19.06.2008, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6
Wo sind noch Bilder auf dieser Welt, am Ende der Welt, in einer anderen Welt? Reisen im Raum und in der Zeit sind der Stoff, aus dem Christoph Ransmayr seine Romane macht; ins Eismeer auf den Spuren der k.u.k. Nordpolexpedition, ins Archiv der alten Welt zum Exil am Schwarzen Meer, ins Niemandsland der Nachkriegszeit wie es hätte sein können, zum Fliegenden Berg ins östliche Tibet im 21. Jahrhundert. Christoph Ransmayr wird aus seinen Romanen die Anfänge lesen. Wendelin Schmidt-Dengler von der Universität Wien, den die österreichischen Autoren liebevoll »ihren« Professor nennen, als Kritiker von ihnen hoch geschätzt, wird die Lesung begleiten und kommentieren.
Harun Farocki
Autor und Filmemacher
»Aufschub« – Die Ikonographie von KZ-Bildern (Film und Vortrag)
Donnerstag, 03.07.2008, 19 Uhr c.t., Hörsaal 1.101, Hegelplatz 2
Der Essayfilmer Harun Farocki stellt seinen Film »Aufschub« vor, in dem historische Aufnahmen aus dem Jahr 1944 zu sehen sind. Dieser Film ist »auf der ersten Ebene ein Dokument aus dem und über das Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden. Auf einer zweiten Ebene aber, und zwar durch die Wiederholung von Aufnahmen und mit Hilfe von Zwischentiteln, reflektiert Farocki die Konnotationen von Bildern. Er diskutiert die Ikonografie der KZ-Bilder, die sich zum Kanon verfestigt haben und in unseren Köpfen zu Chiffren erstarrt sind. Farocki beharrt auf der Mehrdeutigkeit von Bildern, auf der Konkurrenz möglicher Lesarten, und verfolgt, indem er gegen obsolete Regeln der Pietät verstößt, ein aufklärerisches Ziel.« (Thomas Rothschild).