Wenn Zukunft nicht mehr gleichbedeutend ist mit dem Weltgericht oder der Zeitspanne bis zu seinem Eintreffen, so ändert sich der Blick auf Kommendes entscheidend. Zukunft kann nur mehr als „leerer zeitlicher Raum“ (Koselleck) entworfen werden, was eine große Zahl von Institutionen und Praktiken auf den Plan ruft, die mit ihren wissenschaftlichen Modellen in Aussicht stellen, das Ungewisse möglicher Ereignisse und Entwicklungen in Planbarkeiten zu überführen: die demographische Entwicklung, den Klimawandel, die Energieversorgung, die Abschätzung von technischen und geopolitischen Folgeerscheinungen, nicht zuletzt die Ökonomie an der Börse. Die Vorhersage möglicher Zukünfte entsteht aus einer sich ständig verändernden und oft als bedrohlich empfundenen Gegenwart. Zukunft haben wir nur in ihren sozialen und gesellschaftlichen Konstrukten. Schon das divinatorische Wissen der Alten Welt mit seinen Orakelsprüchen hat niemals behauptet, eine zukünftige Wirklichkeit „wirklich zu sehen“, wohl aber das Sichtbare, Erkennbare und Plausible zur Perspektivierung von Macht und Moral benannt und beurteilt. Zukunftswissen ist Orientierungswissen. Das gilt bis heute für jederlei ‚Politikberatung‘. In den Mosse-Lectures soll das in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, in den Künsten und Religionen erforschte und imaginierte Zukunftswissen, auch das einzugestehende Nicht-Wissen, verhandelt werden: seine Herkunft, Geltung, Legitimierung und sein Einfluss: von der Wahrsagekunst im Alten Orient bis zu Big Data. Welches Selbstverständnis einer Gesellschaft zeigt sich in ihren Bezugnahmen auf die Zukunft? Welche rhetorischen, technischen und medialen Mittel zur Modellierung und Inszenierung von Zukunftswissen sind zu beobachten und zu analysieren? Welche kollektiven Wünsche und Ängste prägen seit der klassischen Apokalypse die Vorstellungen des ultimativ Zukünftigen?
Stefan Maul
(Heidelberg)
»Wahrsagekunst im Alten Orient«
Donnerstag, 28.04.2016, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Einführung und Moderation: Ethel Matala de Mazza (HU Berlin)
Im Alten Mesopotamien wollten weder Herrscher noch Generäle wichtige Beschlüsse in die Tat umsetzen, ohne dass Zeichendeuter ihnen zuvor deren sicheren Erfolg vorausgesagt hätten. Der Ruhm der altorientalischen Fachleute verbreitete sich im gesamten Mittelmeerraum. Auch im klassischen Griechenland und im antiken Rom wollte man angesichts ihrer Erfolge ohne den Rat von Sterndeutern und Opferschauern keine wichtigen politischen und militärischen Entscheidungen treffen. Heute lassen Tausende von Keilschrifttexten das von wissenschaftlicher Systematik geprägte komplexe Lehrgebäude der Zukunftsschauer erkennen. Diese Quellen sind darüber hinaus von größtem Interesse, da sie auch erlauben, eine Antwort auf die drängende Frage zu finden, wie es nur möglich war, dass eine auf der Beobachtung von Vorzeichen fußende Politikberatung über viele Jahrhunderte hinweg dauerhaft stabile politische Verhältnisse befördern konnte.
Stefan Maul, Altorientalist, Professor für Assyriologie an der Universität Heidelberg, Träger des Leibniz-Preises, Forschungen zur Religions- und Kulturgeschichte des Alten Orients, Fellow des Wissenschafts-kollegs zu Berlin (2004/2005); neuere Veröffentlichungen u.a.: »Das Gilgamesch-Epos«, neu übersetzt und kommentiert (5. Auflage 2012), »Keilschriften aus Assur«, (Herausgabe 2007-2012), »Die Wahrsagekunst im Alten Orient« (2013)
Bruno Latour
(Paris)
»On a possible difference between Earth and the Globe.«
Donnerstag, 12.05.2016, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Kinosaal (HU-Hauptgebäude)
Kommentar und Gespräch: Wolfgang Schäffner (HU Berlin)
Die Moderne kann in mancherlei Hinsicht als Entwicklung definiert werden, die unsere boden-ständige Lebenswelt (le terroir) im Horizont der Globalisierung (le globe) öffnet. Mit dieser Entwicklung kennzeichnen wir Vorstellungen des Progressiven und des Reaktionären. Dabei erscheint die Utopie des globalen Fortschritts zunehmend als fragwürdig; ebenso utopisch ist aber auch die Mimikry an dem, was einst als in Grund und Boden gefestigt galt und unsere Aufmerksamkeit noch einmal auf sich zieht. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, politisch an Orientierung zu gewinnen: durch die Annahme eines dritten Pols, den der Erde selbst, unseres Planeten. Und dies sowohl im Unterschied zu jenem »alten Land« wie auch zur Modernisierung im globalen Maßstab. In diesem Vortrag sollen einige der Ansätze von Wissenschaftlern, Künstlern, politischen Aktivisten und Philosophen besprochen werden, welche die hier skizzierte Dreieckskonstellation vorsehen.
Bruno Latour ist Professor für Soziologie am Institut d´Études des Politiques in Paris und Direktor des dortigen Media-Labs, Autor maßgeblicher anthropologischer, soziologischer und wissenschaftsgeschichtlicher Werke, Begründer der Akteur-Netzwerk-Theorie; Kurator von Ausstellungen u.a. am ZKM Karlsruhe: »Iconoclash« (2002), »Rest Modernity« (2016), Albertus-Magnus-Professur an der Universität Köln (2015); ins Deutsche übersetzte Monographien u.a. »Wir sind nie modern gewesen« (1995, Neuauflage 2008), »Das Parlament der Dinge« (2001, Neuauflage 2009), »Die Hoffnung der Pandora« (2002), »Existenzweisen. Eine Anthropologie der Moderne« (2014)
Viktor Mayer-Schönberger
(Oxford)
»Big Data. Wie wir in Zukunft leben werden.«
Donnerstag, 19.05.2016, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Einführung und Moderation: Hendrik Blumentrath (HU Berlin)
Viel wird in den Medien berichtet über Big Data und die unglaublichen Mengen an oft auch personenbezogenen Daten, die damit gesammelt und gespeichert werden. Mit Edward Snowdens Enthüllungen gewannen wir Einblick in eine Welt, in der die Vergangenheit nicht mehr vergessen wird. Aber eine weitere Qualität von Big Data – die Vorhersage zukünftigen menschlichen Verhaltens – könnte zu einer noch größeren Herausforderung für unsere Gesellschaft werden und Grundfeste unseres Zusammenlebens, ja vielleicht sogar zentrale Bedingungen des Menschseins in Frage stellen. Warum das so ist, und was wir dagegen tun können – darum geht es in diesem mit vielen aktuellen und realen Beispielen versehenen Vortrag.
Viktor Mayer-Schönberger, Rechtswissenschaftler und Professor für Internet Governance und Regulation an der University of Oxford, Forschungen und publizistische Tätigkeit zu Fragen des Rechts, der Verwaltung und der gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung; Tätigkeit in der Unternehmens- und Politikberatung; auf Deutsch ist zuletzt erschienen: »Delete. Die Tugend des Vergessens im digitalen Zeitalter« (2010), mit Kenneth Cukier: »Big Data. Die Revolution, die unser Leben verändern wird« (2013)
Kathrin Röggla
(Berlin)
»Zukunft als literarische Ressource«
Donnerstag, 16.06.2016, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Einführung und Moderation: Ulrike Vedder (HU Berlin)
Die Frage, wie Literatur mit dem grammatischen, sozial-imaginären und politischen Futur oder gar Futur II arbeitet, stellt sich zentral für ihre Ästhetik. Der Zusammenhang dieser unterschiedlichen Zukünfte konstruiert erst den literarischen Raum, genauso wie jeglicher Realismus sich an seinem Verhältnis zum Zukünftigen messen lassen kann. Gerade heute wird in zeitgenössischen Positionen allerdings immer wieder die Neuralgie des Zeitlichen spürbar. Sie wird nicht selten zum zentralen Thema oder Movens eines Textes. Quer durch unterschiedlichste Lektüren, von Paul Celan über Peter Weiss bis Peter Waterhouse, von Forced Entertainment und Tim Etchells bis zu Roland Barthes, von Dino Pešut bis David Foster Wallace oder Ágota Kristóf, in den unterschiedlichsten Ästhetiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Performativen und Text-Architektonischen versuche ich dieses Terrain zu umreißen. In einer Zeit, in der sowohl die Zukunft in die Gegenwart stürzt als auch umgekehrt die Gegenwart jegliche Zukunft bereits konsumiert hat, und Handlungsoption und Möglichkeitsraum nicht leicht wiederzugewinnende Kategorien sind, kann gerade Literatur über ihre formalen Möglichkeiten und paradoxen Figuren Bewegung in das uns allumfassende Futur II bringen.
Kathrin Röggla, österreichische Schriftstellerin in Berlin, Autorin von Theatertexten, Hörspielen, Essays und erzählender Prosa, Vizepräsidentin der Berliner Akademie der Künste, zahlreiche Auszeichnungen und Poetik-Dozenturen; Buchpublikationen u.a.: »really ground zero« (2001), »disaster awareness« (2006), »die alarmbereiten« (2010), »Besser wäre: keine« (2013), »Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen« (2015).
Joseph Vogl
(Princeton / HU Berlin)
»Das seltsame Überleben der Theodizee in der Ökonomie«
Donnerstag, 07.07.2016, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Ähnlich wie die Theodizee einst das vernünftige und vorausschauende Wirken Gottes in einer Welt voller Desaster zu rechtfertigen versuchte, behaupten liberale Markttheorien, dass die gegenwärtige Finanzökonomie – trotz aller Krisen und Crashes – die beste aller ökonomischen Welten sei. Der Erfolg solcher Lehren liegt nicht nur darin, dass sie komplexe soziale Prozesse auf einfache Operationen wie Tauschakte reduzieren. In ihnen verkörpert sich auch eine elementare Hoffnungsfigur: dass Märkte und insbesondere Finanzmärkte privilegierte Schauplätze sozialer Ordnung seien; dass sich in ihnen eine Art praktischer Vernunft verwirkliche; dass die alte göttliche Vorsehung in den Regelmäßigkeiten des Wirtschaftssystems wiederkehre. Ökonomische Theorie erscheint dabei weniger realistisch, als zutiefst moralisch, metaphysisch und theologisch zu sein. Und es stellt sich die Frage, ob die letzten Finanzkrisen nicht einen ähnlichen Effekt wie das Erdbeben von Lissabon 1755 haben, das alle Versuche einer Theodizee erschütterte und nur in satirischer Form überleben ließ. Was heute auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als die Geltung und die Haltbarkeit einer liberalen bzw. kapitalistischen ‚Oikodizee’, einer Theodizee der ökonomischen Welt.
Joseph Vogl ist Professor für deutsche Literatur, Kulturwissenschaft und Medien an der Humboldt-Universität und ständiger Gastprofessor an der Universität Princeton; ein wichtiger Gegenstand seiner Forschungen ist die Geschichte des Wissens und des politischen Denkens; Publikationen u.a. „Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik“ (2. Aufl. 2010), „Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen“ (4. Aufl. 2004), „Über das Zaudern“ (2. Aufl. 2007), „Das Gespenst des Kapitals“ (5. Aufl. 2015) und „Der Souveränitätseffekt“ (2015)
Mehr zu Joseph Vogls Mosse-Lecture unter:
http://nightoutatberlin.jaxblog.de/post/Das-Versagen-des-Marktes-Zu-Joseph-Vogls-Mosse-Lecture-uber-das-Zukunftswissen-der-politischen-Okonomie.aspx
Video (in englischer Sprache)