Kaum etwas stand in den letzten Jahren so unter Reformdruck wie die Bildung. Ihren Wert stellt – aller Krisen zum Trotz – niemand in Frage. Im Ringen um nötige Subventionen, um die globale Konkurrenzfähigkeit ihrer Einrichtungen und um soziale Verteilungsschlüssel wird dieser Wert jedoch nicht zuletzt als Wirtschaftsfaktor gehandelt und auf die freien Produktionskapazitäten der Gesellschaft angerechnet. Ältere Bildungsideale wären damit überholt. Während deren Verfechter weniger ein Lernen im Sinn hatten, durch das man in einer bestimmten Sache klug wird, sondern eher das Ausschöpfen eines natürlichen Selbstgestaltungs-vermögens, beherrscht heutzutage der Kompetitionslärm alle Debatten. In dem Maß, wie der Markt die sozialen Energien absorbiert, tritt die geduldige Arbeit an einer inneren Statur oder Plastik zurück hinter Fragen des Humankapitals und hinter Fördermaßnahmen, die an die Forderung gekoppelt sind, diese menschlichen Ressourcen dauerhaft und optimal zu nutzen. Von der pädagogischen Theorie über die Praxis von Ausbildungsstätten bis hin zu nationalen und internationalen ,Bildungsoffensiven‘ werden nicht nur die Kriterien einer postindustriellen Gesellschaft, wie z.B. ‚lebenslanges Lernen‘, sondern auch deren ökonomische Standards in die Bildungs- und Ausbildungsprozesse importiert. Bildung wird als Investitionsgut definiert, der Zugang zum Wissen mit Anreizen, sog. ‚incentives‘, versehen. Welche Selbstbeschreibungen und Handlungsmöglichkeiten entwickeln die Bildungs-institutionen unter diesen Bedingungen? Welche Mittel haben sie, um das Regime des Marktes zu begrenzen? Welche Anschlüsse kann die Bildung für diejenigen bieten, die kaum an ihr teilhaben? Und welche Bildungspolitik führt langfristig zu mehr sozialer Gerechtigkeit?
Heinz-Elmar Tenorth
Bildung als Ressource. Status, Lebensform und Ökonomie
Donnerstag, 25.04.2013, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
„Bildung“, so die leitende These, wird schon im Ursprung um 1800 zugleich als gesellschaftliche und ökonomische Ressource und als zentrales Potential der Subjektwerdung betrachtet. Wegen dieser Ambivalenz kulturkritisch besorgt diskutiert, ist Bildung historisch primär präsent als eine der wesentlichen Ressourcen, die Individuen zu ihrer sozialen Reproduktion und Gesellschaften für ökonomisches Wachstum, soziale Stabilität und politische Legitimation benötigen. Für sozialen Aufstieg und Statussicherung begehrt, ökonomisch in ihrer Wirksamkeit vielleicht überschätzt, bleibt Bildung bis in die Gegenwart ein zentraler Mechanismus sozialer Distinktion und Grundlage einer eigenen Lebensform, Ermöglichungsform von Individualität und Kontrollinstrument zugleich.
Heinz-Elmar Tenorth
Professor Emeritus für Historische Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität, Vizepräsident für Lehre und Studium 2000-2005, Mitgliedschaft und Gutachtertätigkeit in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien und Organisationen, Herausgeber (mit Rüdiger vom Bruch) einer sechsbändigen Geschichte der Universität unter den Linden (2010ff.); neuere und neu aufgelegte Publikationen u.a. mit Michael Hüther, Marianne Heimbach-Steins: Erziehung und Bildung heute (2006); Klassiker der Pädagogik, 2 Bände (2010/2011); Geschichte der Erziehung (Tb. 2012); mit Rudolf Tippelt Studienausgabe des Lexikons Pädagogik (2012).
Heinz Bude
Das prekäre Gut der Bildung
Donnerstag, 02.05.2013, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Bildung gilt in modernen Gesellschaften als der große Schlüssel für die Gewinnung von Lebenschancen: für die Einzelnen wie für ganze Gesellschaften. Bildung erhöht wirtschaftliche Produktivität, fördert politische Partizipation und stärkt den sozialen Zusammenhalt. Dabei meint man in der Regel schulische oder universitäre Bildung, die durch entsprechende Zertifikate bescheinigt wird. Deshalb ist es ein unbestrittenes politisches Ziel, die Bildungsbeteiligung zu erweitern und das Bildungsniveau zu steigern.
Aber Bildung ist ein teuflisches Gut. Ermöglichung und Verhinderung sind die zwei Seiten einer Medaille. Die einen ernähren sich gesund, wohnen schön und drosseln die Heizung; die anderen sind fett, phlegmatisch und fremdenfeindlich. Sogar Befreiungsbewegungen passen ins Bild: Die Gebildeten proben den Aufstand für eine bessere Welt, die Ungebildeten unterstützen die Parteien der Repression und des Fundamentalismus. Wer eine anständige Gesellschaft will, wird sich über die populäre Ideologie der Bildung erschrecken: Bildung ist Bürgerrecht, aber kein Menschenmaß.
Heinz Bude
Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel, wegweisende Arbeiten zur Gesellschaftstheorie, zur Generationen-, Exklusions- und Unternehmensforschung; neuere Veröffentlichungen u.a.: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft (2008); Mit Joachim Fischer und Bernd Kauffmann: Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir? (2010); Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet (2011); Lebenskonstruktionen. Für eine neue Sozialforschung (im Erscheinen).
Ute Frevert
Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, Historikerin, Honorarprofessorin an der Freien Universität Berlin, zahlreiche Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Akademien und Beiräten, Trägerin des Leibniz-Preises der DFG, neuere Veröffentlichungen u.a.: Export / Import: Bildung in der neuen Welt. In: N. Buschmann, U. Planert (Hg.):Vom Wandel eines Ideals: Bildung und Gesellschaft in Deutschland (2010); Mitautorin: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche (2011); Gefühlspolitik: Friedrich II. als Herr über die Herzen? (2012).
Reinhard Kahl
Gegenwart! Vorschläge für die Schule der Zukunft.
Donnerstag, 16.05.2013, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
„Alle reden sie von der Zukunft“, schrieb Arthur Schopenhauer, „dieser opfern sie ihr Daseyn; und die Zukunft macht Bankrott.“ Eine treffliche Diagnose unserer Schulen, so Reinhard Kahl. Denn was Schülerinnen und Schülern und mehr und mehr auch den Studierenden am meisten fehlt, ist eine wache Gegenwart, in der Zukunft entsteht. Der laufende Betrieb lasse an einen aufheulenden Motor denken, dessen Kupplung defekt ist. Statt darüber nachzudenken, wie dem Erledigen mit anschließendem Vergessen zu entkommen sei, tunt man weiter den abgekoppelten Motor. Kein Wunder, dass in Schulen und auch in Hochschulen mehr und mehr vom „Bulimielernen“ die Rede ist, von dem Reinhard Kahl früher schon in einem Essay gesprochen hat, allerdings ohne Lamento. Seit Jahren ist er mit seinen Erkundungen den Schulen und anderen Bildungshäusern auf der Spur. Kahls Vorschlag für die Bildung der Zukunft heißt: Gegenwart schaffen! Der Vortrag skizziert Ideen für eine künftige Schule mit Filmausschnitten aus seinem Archiv der Zukunft.
Reinhard Kahl
Journalist und freier Mitarbeiter verschiedener Rundfunkanstalten, Veranstalter im Hamburger Literaturhaus, Beiträge und Kolumnen im mehreren Zeitungen und Zeitschriften, Autor, Regisseur und Produzent zahlreicher preisgekrönter Fernseh- und Videodokumentationen, u.a. Studieren und kein Land in Sicht (10 Folgen des NDR), Lob des Fehlers (6 Folgen der ARD); seit 2004 Produktionen im Hamburger Netzwerk Archiv der Zukunft, Dokumentationen zum Thema Bildung, zuletzt der Film: Kinder! Über das Lerngenie.
Daniele Checchi
Educational Policies. Can We Achieve Equality in the Long Run?
Donnerstag, 30.05.2013, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Reformen des Erziehungswesens sind keineswegs eindimensional: verschiedene Aspekte, die berücksichtigt sein wollen, wirken hier zusammen. Wenn man auf der Grundlage empirischer Untersuchungen die wichtigen nationalen Reformbewegungen der letzten hundert Jahre in verschiedenen europäischen Ländern analysiert, so gewinnt man interessante Erkenntnisse über die unterschiedlichen individuellen und kollektiven Bildungsstandards. Legt man die historisch bedingten geopolitischen Unterschiede und deren institutionelle Rahmenbedingungen zugrunde, so kann man feststellen, wie institutionelle Reformen und individuelle Bildungserfolge einander bedingen und im allgemeinen hier auch der Grund gelegt wird für eine generationenübergreifende ungleiche Verteilung der Bildungschancen. Zu unterscheiden sind „einschließende“ und „ausschließende“ Reformeansätze. „Inklusive“ Reformen erhöhen in der Regel die Bildungschancen von Schülern und Studenten aus sozial und kulturell benachteiligten Milieus, während andere Reformvorhaben, die man als „selektiv“ identifizieren kann, allein die Leistungsstarken fördern. Ideologische Vorgaben sind in der Regel dafür verantwortlich, dass die Politik dem einen oder dem anderen Bildungskonzept den Vorzug gibt. Linke Mehrheiten bringen eher „inklusive“ Reformen auf den Weg, nach rechts orientierten Volksvertretungen dagegen bieten eher „selektive“ Lösungen an.
Daniele Checchi
Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Mailand, Fellow am Institut zur Zukunft der Arbeit in Bonn; Forschungen zur Bildungsökonomie, zum Arbeitsmarkt, zur Gewerkschaftspolitik und Generationenmobilität; Mitglied verschiedener Berater- und Expertengremien; außer zahlreichen empirischen Untersuchungen Veröffentlichungen u.a. mit Claudio Lucifora: Education, Training and Labour Outcomes in Europe (2004); The Economy of Education: Human Capital, Family Background and Inequality (Cambridge 2008).
Jutta Allmendinger
Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität, Mitglied in mehreren wissenschaftlichen Akademien und Expertengremien, zahlreiche Auszeichnungen in Verbindung mit ihrer fachlichen und gesellschaftspolitischen Arbeit; letzte Veröffentlichungen u.a.: Verschenkte Potenziale. Lebensläufe nicht erwerbstätiger Frauen (2010); Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden (2012).
A.L. Kennedy
»Words« – A One-Person Performance
Donnerstag, 13.06.2013, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Der Vortrag in Form einer Performance handelt vom Grund aller individuellen Bildung und erzieherischen Programmatik: der Sprache. Entlang des eigenen Werdegangs als Schauspielerin, Schriftstellerin und Professorin für kreatives Schreiben erzählt A.L. Kennedy vom lustvollen und enervierenden sprachlichen Ausdruck: von der Einsamkeit des ersten Worts, von der eigenen und der Sprache der Anderen, vor Ort im Alltag und unterwegs, beim Sprachtraining des Workshops, im Gespräch mit den Lektüregewaltigen von Verlag und Medienanstalt, immer wieder auf der Bühne, wo doch nichts anderes geschieht als die Animation zum Mitsprechen und Nachdenken. Dass die Sprache trügerisch ist, zeigt sich in jeder Beziehungsgeschichte, in jeder Konversation, haarsträubend und komisch zugleich. Die Autorin sieht sich in der Tradition der sehr britischen ’stand-up comedians‘, die dem alltäglichen und professionellen Leben seine Skurrilitäten und Merkwürdigkeiten ablauschen, wie auch in ihren Romanen, Erzählungen und Sachbüchern, in denen sie ihre Figuren in der Familie, im Beruf, in den stories von sex and crime und auch im grauenhaften Kriegsgeschehen mit ihrem liebevollen Sarkasmus begleitet.
A.L. Kennedy
A.L. Kennedy wurde in Dundee / Schottland geboren und lebt in Glasgow. An der University of Warwick hat sie eine Professur für Creative Writing inne. In den britischen Medien ist sie ebenso wie in Hörsälen und Community Centers durch ihre Auftritte, Kritiken und Kolumnen stets präsent. Ihr umfangreiches Werk von Romanen, Erzählungen und Sachbüchern wurde vielfach ausgezeichnet und fast vollständig ins Deutsche übersetzt, in den letzten Jahren u.a. die Romane Also bin ich froh (2004), Paradies (2005), Day (2007), Das blaue Buch (2012); 2006 erschien der von ihr herausgegebene Sammelband Cool Britannia. Junge Literatur aus Großbritannien und 2009 die Erzählsammlung Was wird.
Lothar Müller
Lothar Müller ist Kulturjournalist, Literatur- und Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung, Honorarprofessor am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität. 2012 erschien seine kulturgeschichtliche Monographie Weiße Magie. Die Epoche des Papiers.