„Verschlagen werden und verschlagen sein sind bei Homer Äquivalente“, schreiben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Odysseus nämlich wird auf einer endlosen Irrfahrt ins Unbekannte verschlagen, hält sich aber durch seine List und sein Verschlagensein am Leben und erfährt zuletzt gar eine glückliche Heimkehr. Mit der Odyssee ist nicht nur ein geradezu archetypischer abendländischer Erzähltypus geschaffen. Sie kann auch bis heute als das Urbild aller abenteuerlichen und riskanten Fahrten und Unternehmungen gelten. Der Parcours, den die Mosse-Lectures 2007 durch die unterschiedlichsten Odysseen von Homer bis hin zu Stanley Kubrick antreten werden, soll deswegen Anlass für eine Archäologie neuzeitlicher Verschlagenheit sein, die sich hinter die „Dialektik der Aufklärung“ noch einen Schritt zurück wagt.
Schließlich hat bereits die Antike in einem Medienverbund von Ton, Schrift und Zahl eine folgenreiche Arbeit am Mythos geleistet: Die Kultur der Sänger war eine Kunst des Gedächtnisses und der Übertragung, die sich gerade an den vielen und unbestimmten Örtern des „polytropos“ Odysseus zu bewähren hatte; die Einführung des Vokalalphabets, womöglich nur zu eben diesem Zweck geschehen, hat dem Abenteuer allererst seinen Ort in der Literatur eingeräumt; und schließlich kam der Versuch, des Odysseus abwegigen Parcours zu lokalisieren, in der antiken Navigation und Kartographie, im Periplus und in der Kunst der Hafenfindung zu sich. Was bei den Griechen noch als heldenhafte Verschlagenheit galt, verwarf die Spätantike und das Mittelalter hingegen als bloßen Betrug und selbstverschuldete Ruhelosigkeit: Ulixice hieß nichts weiter als ,betrügerisch’, und noch Dante verbannte den verwegenen Ulisse in die Vergessenheit des achten Höllengrabens.
Erst in der Epoche der Entdeckungsfahrten galt Odysseus wieder als jene Heldengestalt, die mit ihrer unstillbaren Neugier, mit ihrem unwiderstehlichen Entdeckerdrang und ihrem klugen Machtinstinkt den Übergang von einer landgebundenen zu einer maritimen Kultur ermöglicht hat. Odysseus ist der Heros neuzeitlicher Globalisierung und Kolonisierung. Das zeigt sich noch in jener „inneren Kolonisierung“, an jener Odyssee zahlloser Bewusstseinszustände, die James Joyces Niemand Leopold Bloom an einem endlosen Julitag des Jahres 1904 erfährt. Und es zeigt sich an Kubricks medialer Space Odyssey des Jahres 2001, die von der Verschlagenheit der Uraffen zur Kolonisierung des Weltraums und zuletzt zum psychedelischen Trip des gesamten Menschengeschlechts reicht.
Walter Burkert
Professor em. für klassische Philologie, Universität Zürich
Odysseen: Phantasien, Realitäten und Homer
Dienstag, 15.05.2007, 19 Uhr c.t.,
Piero Boitani
Professor für vergleichende Literaturwissenschaften an der Università di Roma »La Sapienza«
Dantes Odysseus und die Moderne
Donnerstag, 31.05.2007, 19 Uhr c.t.,
Klaus Reichert
Professor em. der Anglistik und Amerikanistik an der Joh.W.Goethe-Universität Frankfurt
Odysseus und Ulysses. Irrfahrten und Wanderungen von Wörtern und Helden
Donnerstag, 21.06.2007, 19 Uhr c.t.,
Joyce hat von sich einmal gesagt, er habe keine Phantasie, er habe nur Gedächtnis; er sei ein „geschickter Arrangeur“ vorgefundenen Materials. Sein „Ulysses“ ist translatio, Übertragung des homerischen Epos auf allen nur denkbaren Ebenen: der des Namens, vom Griechischen ins Lateinische und Englische, des erzählerischen Verfahrens der Transformation der homerischen Episoden in die Struktur des Romans, vom Mythos in den Dubliner Alltag, Transposition des Heroischen in das scheinbar banale Leben, das dem „Niemand“ namens Leopold Bloom widerfährt. Dabei ruft Joyce ins Gedächtnis, was die Odyssee auch war oder sein konnte: Lust des Erzählens und Sinneslust, so viel Weiblichkeit, die den Mythos perspektiviert, kartographisches Muster der Irrfahrt, das im Aufriß Dublins wiederkehrt, die keineswegs ziellose Wanderschaft und mögliche Heimkehr des Helden, für die man auch einen semitischen Ursprung annehmen konnte. Odysseus/Bloom als Greek-Jew? Faktenversessen bringt Joyce alle nur möglichen Erfindungen der Weltweisheit ins Spiel.
Friedrich Kittler
Professor für Ästhetik und Geschichte der Medien; Humboldt-Universität zu Berlin
Im Kielwasser der Odyssee
Donnerstag, 28.06.2007, 19 Uhr c.t.,
Der Vortrag sucht an vier Gestaltungen der Odysseus-Sage zu zeigen, daß sich Raum und Erfahrung im Abendland als immer vertieftere Rückkehr zu den Griechen vollziehen. Die Griechen haben um -800 ein nordsemitisches Konsonantenalphabet übernommen, mußten aber, um Hexameter schreiben zu können, fünf Zeichen zu Vokalen umfunktionieren. Deshalb läßt sich die „Ilias“ als Sage vom Fall Troias (-1200) bis heute lesen; deshalb gibt es seit Homer überhaupt Dichtung. Die Irrfahrten des Odysseus (im Gegensatz zu seiner trojanischen Kriegslist) spielen dagegen kurz vor der griechischen Besiedlung Süditaliens (-775), als um -800. Der Held begegnet Ungeheuern und göttlichen Frauen, deren namenlose Inseln oder Küsten erst Hesiod um -700 mit Eigennamen beschenken wird: Vom Monte Circeo über Capri und die Straße von Messina nach Sizilien zeichnen sich Italiens Umrisse ab. Insofern segeln die Griechen, die den Raum von Cumae bis Syrakus mit Städten besiedeln und Italien ihr Alphabet bringen, im Kielwasser der Odyssee. Mit der römischen Eroberung Italiens und Griechenlands kehren sich im entdeckten und benannten Mittelmeer die Vorzeichen um. Vergils Aeneas überlebt als einziger den Untergang Troias, segelt im Kielwasser der Odyssee über Afrika nach Italien und empfängt aus dem Mund ausgerechnet der cumaeischen Sybille den Befehl, alle italischen Feinde Roms zu unterwerfen, damit seine Nachkommen bis auf Augustus dann den ganzen Mittelmeerraum (einschließlich Karthago und Hellas) zum mare nostrum einen können. Der einzige Preis, den das Imperium Romanum dafür zahlen muß, ist die Aufgabe des Griechischen, das in einer Latinisierung untergeht. Die einzigen Waffen, mit denen die Weltherrschaft errungen wird, sind (wie Vergil nur in Metaphern uns verrät) technologische Importe: eine Kriegsflotte nach punischem Modell und Belagerungsmaschinen, wie von den letzten Pythagoreern – Archytas und Archimedes – erfunden worden! Wenn Dante im Inferno, dessen Topographie er nicht aus der Odyssee, sondern von seinem Führer Vergil übernommen hat, auf Odysseus trifft, muß daher Vergil für ihn dolmetschen. Der Dichter der Commedia (1318) kann selbst kein Griechisch mehr. Nur so läßt sich auf Italienisch reimen und schreiben, worin der römisch-christliche Okzident die Antike überschreitet. Dantes Ulysse – diese etruskische Form des Namens – ist wagemutig und experimentierfreudig genug, von Gaeta (Monte Circeo) aus das mare nostrum zu verlassen. Er segelt in den tropischen Atlantik, wo die Stürme Afrikas Schiff und Mannschaft verschlingen. Eben aus diesem Scheitern der Heiden, deren Sprachen sich langsam verlieren, gehen europäische Literatur und Neue Welt hervor. Kubricks Odyssee 2001 spielt zwar in dieser Neuen Welt, in Raumschiffen der USA, ist aber in merry old England gedreht und verwendet nur eurasische Musik. An die Stelle des Gesangs treten überlange Medien: Filmepos und Symphonie. Die Kybernetik geht von Segelschiffen auf zwei Cybernauten über, die Kriegsmaschine auf eine Turingmaschine, den Computer HAL als Kryptogramm der IBM. Der Logos inkarniert sich also – streng nach William Burroughs – außerhalb der Erde oder Menschheit als pythagoreisch reiner Virus oder Monolith, was alle Heimkehren nach Ithaka zur Aporie macht. Der letzte Astronaut, der überlebt, durchläuft ein Möbiusband und keinen Kreis. Die Medien (künden alle diese Odysseen), ob Alphabete, Schiffe oder Binärcodes, sind in Menschenhand zwar Waffen, nie aber bloße Werkzeuge.