Seit Platons „Staat“ und Aristoteles‘ Begriff von Katharsis gibt es die wirkungsästhetische Debatte um ein prekäres, nicht zuletzt politisches Verhältnis der Musik zur Welt. Wie wird über die Musik, mit der Musik und in der Musik politisch ‚gesprochen’? Von einem „auditiven Kommunikationssystem“ der Musik spricht die Theorie. In der Praxis geht es um die Veränderung von Hörgewohnheiten von Luigi Nonos Entdeckung neuer Klangformen für ein politisch wirksames Musiktheater bis zu Helmut Lachenmanns Vorstellungen einer musique concrète instumentale. Unter den hochtechnischen Bedingungen der medialen Speicherung und Übertragung wurden durch musikalische Hörstücke, neuartige Raum-Klang-Experimente und auf die Umwelt bezogene Soundinstallationen neue politische Kapazitäten erschlossen: sowohl im Umgang mit den Institutionen, den „musikalischen Apparaten“, wie auch für die sinnlich und sinnhaft erweiterte Rezeption. Grenzüberschreitungen der Künste und Kulturen sind eng verbunden mit dem sozialen und politischen Engagement ihrer Akteure. Die Mosse-Lectures zur ‚Öffentlichkeit von Kultur und Wissenschaft’ thematisieren in einer Reihe von Veranstaltungen die politische Ausdrucksfähigkeit von Komposition und konzertanter Musik, insbesondere der ‚Neuen Musik’, von Musiktheater und Klangkunst im öffentlichen Raum, insbesondere auch von fremdkulturellen Interventionen und Kooperationen.
Pressestimmen
NIGHT OUT @ Berlin (über Helmut Lachenmann)
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Der Tagesspiegel, 13. Mai 2011 – Kultur (über Helmut Lachenmann)
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Der Tagesspiegel, 05. Mai 2011
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Der Tagesspiegel, 10. April 2011
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Der Tagesspiegel, 30. April 2011
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Der Tagesspiegel, 27. Mai 2011 (über Claudio Abbado und Bruno Ganz)
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taz (über Heiner Goebbels)
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Hermann Danuser
Professor für Historische Musikwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin
Musik und ihre Wissenschaft – diesseits und jenseits politischer Codierung
Donnerstag, 05.05.2011, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Der Vortrag geht davon aus, dass Musik und Musikwissenschaft wie jede kulturelle Praxis politisch verstanden werden können. Um das Politische der Musik zu ergründen, ist es wenig hilfreich eine Gegensätzlichkeit von innermusikalischen Strukturen einerseits und politischer Erkenntnis und Wirkung andererseits anzunehmen. Die Geltung und der Wandel musikalischer Topoi sind eine Voraussetzung zum Verständnis von Musik in verschiedenen historischen Zusammenhängen, ebenso ihre institutionelle Verfasstheit und Marktgängigkeit. Das musikalische Erlebnis kann indes politisch sein, ohne dass der einzelne Rezipient beim Hören und Sehen vom politischen, sozialen und gesellschaftlichem Kontext wissen muss. Die Musikforschung hat die Aufgabe, die historischen und die aktuellen Codierungen und Umcodierungen der Instrumental- und Vokalmusik, nicht zuletzt die wechselhaften Inanspruchnahmen des politischen Liedes, analytisch zu reflektieren.
Hermann Danuser, Musikwissenschaftler, Professor für Historische Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität, umfangreiche Forschungen und Publikationen zur Geschichte der Musik, der Musiktheorie und Musikästhetik, insbesondere des 20. Jahrhunderts; Herausgeber u.a des Neuen Handbuchs der Musikwissenschaft in der Nachfolge von Carl Dahlhaus; 2009 erschien sein Buch »Weltanschauungsmusik«.
Helmut Lachenmann im Gespräch mit Christina Weiss
Kunst als Abenteuer: unverzichtbar
Donnerstag, 12.05.2011, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Helmut Lachenmann ist zurzeit Fellow im Wissenschaftskolleg zu Berlin. Seine Kompositionen (Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, 1977) sind wegweisend für die Neue Musik im ausgehenden 20. Jahrhundert. Seit seiner Zeit mit Luigi Nono in den 1970er Jahren gilt Lachenmann mit seiner ständigen Suche nach neuen Ausdrucksformen in der Musik und seiner Kritik am „symphonischen Orchesterbetrieb“ als Anwalt eines ‚politischen Komponierens‘, mit dem das Hören und das Hörverhalten des Publikums zu verändern ist. Seine Gesprächspartnerin ist Christina Weiss, Literaturwissenschaftlerin und ehemalige Staatsministerin für Kultur im Bundeskanzleramt. Unter dem Motto des Abends „Kunst als Abenteuer: unverzichtbar“ werden Fragen der Eigenständigkeit und Widerständigkeit der Künste in der Medien- und Konsumgesellschaft zur Sprache kommen.
Helmut Lachenmann, Komponist und Kompositionslehrer, Professor em. der Staatlichen Hochschule für Musik und Gestaltung in Stuttgart; die wegweisenden Neuerungen der Kompositionstechniken und Klangstrukturen wurden einem größeren Publikum durch das Bühnenwerk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1997) bekannt. Auseinandersetzungen mit dem ›philharmonischen Kulturbetrieb‹; in zweiter Auflage erschien 2004 die Sammlung seiner Schriften Musik als existentielle Erfahrung.
Christina Weiss, Literaturwissenschaftlerin, Kunst- und Literaturkritikerin, Honorarprofessorin der Universität des Saarlandes; ehemalige Kultursenatorin in Hamburg und Staatsministerin für Kultur im Bundeskanzleramt, seit 2008 in Berlin Vorsitzende des Vereins der Freunde der Nationalgalerie; zahlreiche Veröffentlichungen zur experimentellen Literatur, zur Visualität in den Künsten, Kunstvermittlung und Kulturpolitik; 1999 erschien: Stadt ist Bühne. Kulturpolitik heute.
Claudio Abbado zu Gast an der Humboldt Universität. Gespräch mit Bruno Ganz
Donnerstag, 19.05.2011, 19 Uhr c.t., AUDIMAX der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6
Politisches Engagement war für Claudio Abbado stets eine Selbstverständlichkeit: als verantwortliche Tätigkeit für seine Orchester, besonders die von ihm gegründeten Jugendorchester, für sein kulturelles Engagement in Stadt und Region und besonders mit der Ausdrucksfähigkeit der Musik und der musikalischen Interpretation selber. Zur großen Freude der Veranstalter hat Claudio Abbado spontan zugesagt zum Thema „Musik und Politik“ der Mosse-Lectures in der Humboldt-Universität zu sprechen. Die Veranstaltung wird mitgestaltet von seinen guten Freunden in Berlin, von dem Schauspieler Bruno Ganz und Professor Ulrich Eckhardt, dem langjährigen Intendanten der Berliner Festspiele. Mit Rücksicht auf unseren Gast, der in den Tagen zuvor drei Konzerte und ein Zusatzkonzert am 18. Mai mit den Berliner Philharmonikern dirigiert, bitten wir um Verständnis, daß die Veranstaltung auf eine Stunde begrenzt sein wird. Das Photographieren ist nicht gestattet.
Der Eintritt in die Mosse-Lectures ist wie immer kostenlos. Wegen des zu erwartenden großen Publikumsandrangs werden im Foyer des Hauptgebäudes, Unter den Linden 6, ab 17.00 Chips ausgegeben, die zum Eintritt in das Audimax berechtigen. Wir bitten, die Plätze rechtzeitig bis 19.00 einzunehmen. Bei Bedarf wird die Veranstaltung in andere Räume übertragen.
Claudio Abbado, Dirigent der weltweit bedeutendsten Orchester und Opernhäuser, von 1989 bis 2002 Nachfolger von Herbert von Karajan als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker; Begründer mehrerer Jugendorchester, Direktor und Leiter des Lucerne Festival Orchesters seit 2003, des Orchestra Mozart in Bologna seit 2004. Die autobiographischen Schriften und Interview erinnern an das politische Engagement mit Luigi Nono und Maurizio Pollini und gegenwärtige, z.B. ökologische Aktivitäten im Zusammenhang des musikalischen Schaffens; 2003 erschien herausgegeben von Ulrich Eckhardt: Claudio Abbado – Dirigent.
Bruno Ganz, Seit 1996 Träger des Iffland-Ringes, als Theaterschauspieler in Inszenierungen u.a. von Peter Stein (ab 1970 an der Berliner Schaubühne), Klaus Michael Grüber und Luc Bondy, im Film unter der Regie u.a. von Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“), Eric Rohmer und Theo Angelopoulos; im italienischen Kino in Giuseppe Bertoluccis „La domenica specialmente“ und Silvio Soltinis Pane e Tulipanio; Europäischer Filmpreis für das Lebenswerk (2010).
Tania León
Komponistin und Dirigentin, Brooklyn College, New York
Border Crossings. Cultural thresholds in the syncretic evolution of music
Donnerstag, 26.05.2011, 19 Uhr c.t., Hörsaal 1.101, Seminargebäude Dorotheenstr. 24, Zugang vom Hegelplatz
Achtung: Die Veranstaltung findet nicht im Senatssaal, sondern im Hörsaal 1.101 im Seminargebäude Dorotheenstr. 24 (Zugang vom Hegelplatz) statt.
(Vortrag in englicher Sprache)
Grenzüberschreitungen haben Tania Leóns Selbstverständnis der Musik als einer kosmopolitischen Kraft geformt. Schon früh wurde sie in ihrer Familie verschiedenen kulturellen Einflüssen ausgesetzt. Später kam die Gegensätzlichkeit der Ausbildung am Konservatorium zur Musik ihrer kubanischen Heimat hinzu, die für ihr musikalisches Schaffen prägend war und blieb. Seit den frühen 1980er Jahren haben die Überschreitungen und Überblendungen nationaler und ästhetischer Grenzen ihre Kompositionen im Rahmen der konzertanten Musik hervorgebracht. Ihre theoretischen Ansichten vermischen sich hier mit ihren kompositionellen Stileigentümlichkeiten, ebenso mit ihren Anleihen bei verschiedenen musikalischen Konzepten. Einflußreich für ihre Arbeit waren die unterschiedlichen kompositionellen Praktiken von Rhythmus, Melodie, Harmonie, Textur und Formgebung einschließlich des Jazz und lateinamerikanischer Musik. Immer wieder wurden Fragen von Herkunft, nationaler und ethnischer Identität und Kreativität im Verhältnis zur universalen, vom Wissen geprägten Sprache der Musik zum Problem. Für sich selber hat Tania León hier Stellung bezogen: gegen die Vorstellungen eines Multikulturalismus, der die künstlerische Tätigkeit auf soziale und kulturelle Standards reduziert und für einen Universalismus, der den unterschiedlichsten Auffassungen und Strömungen gerecht wird, insbesondere dem, was man eine lateinamerikanische Identität in der Musik nennen kann.
Tania León ist Distinguished Professor an der City University of New York und am Conservatory of Music am Brooklyn College. Sie hat zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen erhalten und ist Mitglied der American Academy of Arts and Letters. In Lateinamerika und in New York war sie an der Gründung verschiedener Orchester und Ensembles beteiligt; von 1993 bis 1997 war sie als Beraterin für das Gebiet der Neuen Musik bei Kurt Masur an der New York Philharmonic tätig. Ihr kompositorisches Werk umfasst zahlreiche Schöpfungen der Kammer-, Orchester- und Vokalmusik. In Europa wurde ihre Oper Scourge of Hyacinths in der Inszenierung von Robert Wilson in verschiedenen Städten aufgeführt. 2010 erschienen ihre Atwood Songs als Beitrag in dem Sammelwerk Habitation – Musical Settings of Margaret Atwood’s Poetry by American Women Composers.
Einführung und Moderation: Dr. Margarete Zander, Musikkritikerin, Kuratorin des »Ultraschall«-Festivals für Neue Musik
Jon Rose
Musiker und Improvisationskünstler, Sydney
Playing Music of Fences. The Sound of Politics, Social Control, Economic Exploitation, and History
Donnerstag, 09.06.2011, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
„Grenzzäune“,sagt Jon Rose, „sind perfekte Metaphern für jede Art von menschlichen Unternehmungen, von Widersprüchen, Unglücksfällen, von menschlicher Hybris. An ihnen zeigt sich die Polarität von Mensch und Natur, Zivilisation und Wildnis. An Grenzzäunen entzündet sich die Lust an Entdeckungen, der Wunsch nach Kontrolle und die Gier nach Ausbeutung von natürlichen Ressourcen.“ An Grenzzäunen haben sich auch Jon Rose’ musikalische Erfindungen und Improvisationskünste entzündet. Mit denen aus der Violine entwickelten Streichinstrumenten entlockt und verstärkt er einen den Zaunanlagen eigenen Klang und setzt in diesem seltsamen als körperlich empfundenen musikalischen Erlebnis eine emotionale Intensität frei, in der die konfliktreiche Geschichte eines Kontinents, eines Landes oder einer Region anklingt. In seiner Mosse-Lecture wird Jon Rose, begleitet von Klangbeispielen und Videos, sein seit 1983 in den australischen Grenzgebieten der Aborigines entstandenes „Great Fences Project“ vorstellen, das er seitdem für die Grenzanlagen in den Palästinensergebieten, an der Grenze der USA zu Mexico und demnächst an der Demarkationslinie beider Korea fortführt.
Im Umfeld einer experimentellen, improvisierten und interaktiven Soundart hat Jon Rose seit den 1980er Jahren seine Installationen und Performances („The Relative Violin“) weltweit auf Musikfestivals und an prominenten Musikhochschulen vorgestellt. In Zusammenarbeit mit vielen namhaften Interpreten, z.B. dem Kronos Quartet, haben sich seine Unternehmungen nach verschiedenen Anlässen, nicht zuletzt mit der Absicht der politischen Intervention des Künstlers im Grenzgebiet, immer weiter verzweigt. Zu seinen Auszeichnungen, auch in Deutschland, gehört der renommierte Karl-Scuka-Preis für Radiokunst des Südwestfunks. In Berlin ist er mehrmals in Veranstaltungen der MärzMusik aufgetreten.
Einführung und Moderation:
Prof. Dr. Ulrike Vedder, Humboldt-Universität, Institut für deutsche Literatur
Heiner Goebbels
Komponist, Musiker und Regisseur
Taxi oder Pferd. Zum Verhältnis von Musik und Politik
Donnerstag, 23.06.2011, 19 Uhr c.t., Senatssaal, Unter den Linden 6, 1. Stock
Heiner Goebbels ist durch seine integrativen Arbeiten des Musiktheaters, von Hörstücken, Installationen und „staged concerts“ in Verbindung mit Theater, Ballett und Videokunst, nicht zuletzt der akademischen Lehre zu einem der wichtigsten Exponenten einer auf Intervention in die gesellschaftlichen Befindlichkeiten und denkbare Veränderungen angelegten musikalischen Praxis geworden. Zu entdecken und zu erproben sind die Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks unter hochtechnischen Bedingungen: die Komposition als Inszenierung, die Aufführung als Appell an die bewussten und unbewussten Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten des Publikums. Goebbels Vorstellungen von einem erweiterten Hören und Sehen sind beispielhaft realisiert in der Adaption von Heiner Müllers Texten und der performativen Installation „Stifters Dinge“ (seit 2007).
Außer seiner Tätigkeit als Komponist und Regisseur ist Heiner Goebbels seit 1999 Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen; er ist Mitglied mehrerer Akademien u.a der Akademie der Künste in Berlin und Träger vieler Auszeichnungen und Preise. u.a. dem europäischen Theaterpreis (2001) und dem Deutschen Kritikerpreis für Musik (2003); seine Kompositionen wurden weltweit auf Festivals und in bedeutenden Theatern und Konzerthäusern aufgeführt, in jüngster Zeit u.a. auf dem Melbourne Festival, im Royal Danish Playhouse, Kopenhagen und dem Zürcher Schauspielhaus; Zusammenarbeit mit den wichtigen Ensembles moderner Musik (Ensemble Modern, Asko Ensemble Amsterdam) und Orchestern (Berliner Philharmoniker, Junge deutsche Philharmonie).
Moderation und Einführung:
Joseph Vogl, Institut für dt. Literatur der HU