Europa war selbstredend der Maßstab für die Weltgeschichte und Weltliteratur, auch für die Erzählungen der nichtwestlichen Länder. Eine Europanistik von heute, wenn es sie denn gäbe, müsste den Wandel der Selbstdarstellungen und Fremdbeschreibungen Europasvon Montesquieus fiktiven Lettres persanes bis zu den grenzüberschreitenden Erfahrungen von Globalisierung und Migration zugrunde legen. Die Errungenschaften von Modernisierung und Fortschritt, von staatlicher Ordnung, politischer Kultur und universalen Menschenrechten werden andernorts anders gesehen und beurteilt. Die Vorstellungen einer europäischen Hegemonie sind im Schwinden begriffen und stellen sich selber in Frage. Gleichwohl wirken sie weiter im Bewusstsein und Selbstverständnis der gar nicht mehr so „fremden“ Länder und Kulturen Asiens, Afrikas, Iberoamerikas und eines vom Westen sich abgrenzenden Osteuropa. Ohne das stets ausschließende Vergleichen und Kontrastieren von Orientalismus und Okzidentalismus, von Despotismus und Liberalismus, von Religion und Säkularisierung könnte eine größere Aufmerksamkeit gewonnen werden für die wechselseitigen Interessen und die je eigenen Vergangenheiten und Zukunftsprojekte. Vielleicht ist ein weniger zentristisches und ein in seiner Vielfalt, wie man gesagt hat, „provinzialisiertes“ Europa sogar besser geeignet, den „Anderen“, dem nicht-weißen und nicht-christlichen Teil der Menschheit, ein Partner zu sein. So gesehen schafft die Aussicht auf Europa in den außereuropäischen Erzählungen, Analysen und Visionen eine gute Gelegenheit, die eigenen Vorstellungen und Vorurteile zu überprüfen.
Sebastian Conrad
Professor für Neuere Geschichte, FU Berlin
Die Erfindung des Westens. Europa in der Sicht nicht-westlicher Eliten
Donnerstag, 24.10.2013, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Wie wird Europa in der Welt wahrgenommen? Wie sieht das Bild Europas – und des »Westens« – in den Gesellschaften Asiens und Afrikas aus? Dass diese Fragen auch in Europa von Bedeutung sind, ist ein relativ neues Phänomen. Der Vortrag unternimmt einen Ausflug in die längeren und tieferen Schichten dieser Beziehung. In der historischen Langzeitperspektive zeigt sich, dass »Europa« als Einheit und zusammenhängendes Konzept nicht nur in Europa selbst hergestellt wurde. Aber auch die Opposition, der Widerstand gegen Europa haben eine lange Geschichte, mit einer ganz eigenen Dynamik. Dabei geht es nicht zuletzt auch um die Chronologie – wie ordnen sich gegenwärtige antiwestliche Impulse in die längere Geschichte der Europa-Beziehungen ein? Erleben wir die Rückkehr des Verdrängten, die Wiederbelebung antiwestlicher Ressentiments, die im Zeitalter des Kolonialismus gesät wurden?
Sebastian Conrad, Professor für neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin; Forschungen zur Kolonial- und Globalgeschichte, zur Geschichte Japans und zur Geschichte der Geschichts-schreibung; neuere Veröffentlichungen u.a. Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich [2006], Deutsche Kolonialgeschichte [2008], Memory in a Global Age [2010], Globalgeschichte. Eine Einführung, [2013]
Wang Hui
Professor für chinesische Literatur und Geistesgeschichte, Tsinghua-Universität Peking
The Imagination of East and West in China’s New Taxonomy
Donnerstag, 07.11.2013, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Die umfassende Verwendung eines neuartigen Konzepts von Wissenschaft ist eines der wichtigsten Kennzeichen des chinesischen Denkens im 20. Jahrhundert. Die Macht von Wissenschaft liegt in der Tatsache begründet, dass mit ihr eine intime Beziehung hergestellt werden kann zwischen einer universalen Weltsicht und der Besonderheit der national bestimmten sozialen Ordnung. Hier wirken eine rationale Ordnung des Wissens und die sozial bedingte Aufteilung der Arbeit zusammen: in einer weit angelegten Genealogie des menschlichen Lebens, in all seinen Formen und Tendenzen. Der Prozess, in dem eine wissenschaftliche »Weltsicht, basierend auf universalistischen säkularen Prinzipien« (gongli shijie guan) die auf »religiöse Werte zurückgehende Weltanschauung« (tianli shijie guan) reformieren und schließlich ersetzen kann, ist konstitutiv für die Transformation des modernen Denkens in China. Die überkommenen Werte (Moral, Bildung usw.) sind jetzt nicht mehr allgemein gültig, sondern nur noch ein Element im neuen Wissenssystem. Seit der in den 1910er Jahren ausgetragenen Kontroverse über östliche und westliche Kultur und der Debatte über den Vorrang von Wissenschaft oder Metaphysik in den 1920er Jahren gilt »Kultur« in China als solider Bestandteil einer streng rationalisierten Ordnung des Wissens. Im Reich der Wissenschaften hat die Kultur – ihre Autonomie, Moralphilosophie, Ästhetik und Gefühlswelt – nicht nur ihre Position verteidigen und sichern können. In Rahmen dieser Taxonomie des Wissens ist auch der Gegensatz von Ost und West neu zu bedenken und anders zu organisieren.
Wang Hui, Forschungen zur modernen chinesischen Philosophie, Politik und Gesellschaft; zahlreiche Gastprofessuren, v.a. in den USA; von 2004 bis 2009 erschien sein vierbändiges Werk The Rise of Modern Chinese Thought; im Westen veröffentlicht u.a. China’s New Order. Society, Politics, and Economy in Transition (2003), Modern China as a Space for Thinking (2006), The Politics of Imagining Asia (2011), The End of Revolution. China and the Limits of Modernity (2011), auf Deutsch ist erschienen: Die Gleichheit neu denken. Der Verlust des Repräsentativen (hg. v. Julian Nida-Rümelin und Wolfgang Thierse, 2012)
Avishai Margalit
Professor Emeritus für Philosophie; Hebräische Universität Jerusalem
The Historian as a Traitor: Loyality to Rome and Loyality to Jerusalem
Donnerstag, 28.11.2013, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Der Vortrag verbindet sich mit dem Denken des deutsch-jüdischen Historikers George L. Mosse. Dabei greift er zurück in die Antike: jüdische Geschichtsschreibung zwischen Orient und Okzident, auch in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Josephus Flavius, im Hebräischen Yosef-ben Mattithu, war eine fragwürdige Figur: ein großer Historiker und ein Verräter, weil er bei der Belagerung Jerusalems auf der Seite der Römer stand. Ein Geschichtsbild wird in Form der Gerichtsverhandlung rekonstruiert, in der Josephus beispielhaft sowohl als Verteidiger und Staatsanwalt wie auch als kundiger Zeuge der Ereignisse auftritt. Im Loyalitätskonflikt zwischen der Treue zu „seinem Volk“ und dem Anspruch auf historische Wahrheit folgte Josephus zwei konkurrierenden Vorbildern: dem des griechischen Geschichtsschreibers Thukydides und dem des biblischen Propheten Jeremiah: aufklärende Historiographie steht gegen das auf die Bibel verpflichtete kollektive Gedächtnis. Was unter Orientalismus und Okzidentalismus zu verstehen ist, so wird deutlich, ist nicht zuletzt eine Frage der Macht und hängt davon ab, wie man im heutigen Israel die jeweils „Anderen“ wahrnimmt.
Avishai Margalit, Prof. em. für Philosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem; 2006-2011 George F. Kennan Professor am Institute for Advanced Studies in Princeton; Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung Peace Now; vielfach übersetzte Arbeiten zur politischen Theorie, Sozial- und Moralphilosophie, Konfliktforschung; zahlreiche akademische Auszeichnungen, in Deutschland mit dem Ernst-Bloch-Preis; Veröffentlichungen u. a: The Ethics of Memory (2002), Occidentalism (mit Ian Buruma, 2004), deutsch: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde (2005), On Compromise and Rotten Compromises (2010), auf Deutsch: Über Kompromisse und faule Kompromisse (2011).
Gayatri Spivak
Avalon Foundation Professor in the Humanities & Prof. of Comparative Literature, New York
Europe?
Donnerstag, 05.12.2013, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Mein Thema heißt „Europa?“ Das Fragezeichen ist ein Zeichen dafür, dass hier eine Intellektuelle spricht. Fraglich ist und bleibt der Anspruch auf ein Kontinentaleuropa, den dieses winzige nordwestliche Kap des riesigen Eurasischen Kontinents stellt. Fraglich eben deshalb, weil dieser Anspruch mit Nachdruck vorgebracht wird, nunmehr im Namen einer Union, die man ganz offen als nichts anderes als eine Ansammlung von Kredit- und Schuldnerstaaten beschreibt unter der Aufsicht Deutschlands. Die europäische Verfassung, die entworfen wurde, um behaupten zu können, dass es sich bei diesem Gebilde um eine schon etablierte multikulturelle Kontinentalgemeinschaft handelt, musste sich als Fehlschlag erweisen, weil mit ihr die allein ökonomische Zweckdienlichkeit verschleiert werden sollte. Auf der wegweisenden Essex-Konferenz von 1982 hatte ich vorgeschlagen, nicht von „Europa und seinen Anderen“ zu sprechen, sondern von Europa als „dem Anderen“. Wir waren uns damals sicher, dass die Zeit für diesen oder jenen Europagedanken noch nicht gekommen war. Im Zuge der fortschreitenden Globalisierung hat sich diese Art zu denken ohnehin als überholt erwiesen. Heute stelle ich fest, dass, wenn man in Afrika oder Asien an „Europa“ denkt, immer noch die alten Imperialmächte meint: Großbritannien und Frankreich, auch Deutschland. Aus diesem Grund habe ich in meinem Vortrag eher den „Rändern“ Aufmerksamkeit gewidmet, der Vorstellung von den Balkanländern seit dem 18. Jahrhundert. Und da ich mich vor allem für die „gendered subalternity“ interessiere, komme ich auf die Frauen der Roma zu sprechen, die ein Schattendasein als eine Art „shadow of the shadows“ führen. Am Ende möchte ich eine andere, leichtere Tonart anschlagen und von denen sprechen, die gar nicht an „Europa“ denken können oder wollen.
Gayatri Spivak, Avalon Foundation Professor in the Humanities und Prof. of Comparative Literature an der Columbia University in New York; Mit Edward Said und Homi Bhabha gilt sie als Mitbegründerin der Postcolonial Studies (“Can the subaltern speak?”); wegweisende Forschungen auf den Gebieten von Feminismus und Globalisierung, Literatur- und Kulturtheorie; Zugehörigkeit zu der von Ranajit Cuha be-gründeten Gruppe der „Subaltern Studies“; 2012 erhielt sie den Kyoto Preis; Veröffentlichungen u.a. A Critique of Postcolonial Reason: Towards a History of Vanishing Present (1999), Death of a Discipli
William Kentridge
Südafrikanischer Künstler, Film- und Theatermacher
Image & History
Montag, 03.02.2014, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Audimax
Der Vortrag reflektiert die jüngste Arbeit mit der “ Winterreise“: eine Reihe von bildnerischen und filmischen Annäherungen an Franz Schuberts berühmten Liederzyklus nach den Gedichten von Wilhelm Müller. Der Vortrag nimmt dieses Material zum Ausgangspunkt, um beispielhaft zu zeigen, wie sich das Bildnerische, Historische und Gedankliche in unseren Vorstellungen ablagert und miteinander verbindet. Vom „Image of History“ ist in doppeltem Sinne zu sprechen. Zum einen im Blick auf die Außenwelt der Geschichte und ihrer Bilder, zum anderen im Rückgang auf deren Potenzial in uns, das nur darauf wartet aufgerufen und, auf halbem Wege sozusagen, in die Welt entlassen zu werden. Sind wir nicht immer auf bestimmte Art und Weise, so ist zu fragen, Komplizen unserer Erkenntnisse: einer angenommenen Anschauung der Welt, abhängig von unseren Konstruktionen dieser Welt?
William Kentridge, einer der bedeutendsten Vertreter der zeitgenössischen Kunst; seine weltweit ausgestellten und aufgeführten Werke nehmen Bezug auf die europäische Literatur, Kunst und Musik, sie gelten lokal und global einer Erinnerungs- und Widerstandskultur, fokussiert auf die südafrikanische Geschichte der Apartheid; auf der Kasseler Documenta 2012 war seine Installation The Refusal of Time zu sehen, seitdem als Theaterperformance u.a. in Paris, New York. Seine Lecture Performance der Drawing Lessons hat er an der Harvard University (2012) und der Wits University in Johannesburg (2013) vorgeführt, 2014 in neuer Fassung auch am Schauspielhaus Hamburg; 2010 erhielt er den Kyoto Preis für sein Lebenswerk; Veröffentlichungen auf Deutsch u.a. Thinking aloud: Gespräche mit Angela Breidbach (2005), Black Box / Chambre Noir (2005), William Kentridge: Fünf Themen (2010), Die Ablehnung der Zeit (mit Peter Gallison, 2011).
Andreas Huyssen
Villard Professor of German and Comparative Literature, Columbia University New York
Europäische Moderne im Blick: William Kentridge und Nalini Malani
Dienstag, 04.02.2014, 19 Uhr c.t., Dorotheenstraß 24, HS 1.101
Mit William Kentridge und Nalini Malani behandelt der Vortrag Arbeiten von zwei Künstlern, die einen kolonial-postkolonialen Blick auf westliche Kunstpraktiken der Moderne nutzen, um kritisch mit der politischen Geschichte ihrer Länder—Südafrika und Indien—umzugehen. Beide mobilisieren in unterschiedlicher Form überkommene Animations- und Schattenspieltechniken, um die Verwerfungen traumatischer Erinnerung in Szene zu setzen. Bei beiden Künstlern erleben wir eine Verdichtung politischer und ästhetischer Praktiken, wie sie in der gegenwärtigen westlichen Kunstszene kaum mehr anzutreffen sind. Ihre wichtigsten neueren Arbeiten wurden zuerst auf der 13. Kasseler Documenta gezeigt: Kentridges Refusal of Time und Malanis InSearch of Vanished Blood.
Andreas Huyssen, Professor für deutsche und vergleichende Literatur, Gründungsdirektor des Institute of Comparative Literature and Society an der Columbia University in New York. Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift New German Critique. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören: After the Great Divide: Modernism, Mass Culture, Postmodernism (1986); Twilight Memories: Marking Time in a Culture of Amnesia (1995); Present Pasts: Urban Palimpsests and the Politics of Memory (2003); Other Cities, Other Worlds: Urban Imaginaries in a Globalizing World (Hg., 2008); William Kentridge and Nalini Malani: The Shadowplay as Medium of Memory (2013).