In der Moderne sind Öffentlichkeit, Information und Transparenz Garanten einer „offenen“ und demokratischen Gesellschaft, im Gegensatz zu traditionellen Gesellschaften, in denen ein geheimes Wissen unvermittelt zur Sicherung von politischer Souveränität und religiöser Autorität diente. Gleichwohl hat Georg Simmel das Geheimnis eine der „größten Errungenschaften der Menschheit“ genannt. Eine Gesellschaft ohne Geheimnisse und deren Gefühlslagerungen von Schuld und Scham, Distanz und Distinktion, wäre demnach nicht lebenswert. Im Wechselspiel von Geheimnis und Offenbarung, von Verbergen und Enthüllen entsteht eine eigene Art des Wissens, mit der jede Aufklärung zu rechnen hat. Nicht das Geheimnis an sich, sondern der Vorgang des Verheimlichens oder der Geheimhaltung schafft diese zweifelhafte Wirklichkeit, nicht selten in der Konsequenz von Verrat und Verschwörung. Als „Ökonomie des Geheimen“ hat man den Umgang mit dem, was geheim gehalten wird, bezeichnet: den Transfer dieses prekären Wissens, der, historisch gesehen, die symbolischen Handlungen, sozialen Strukturen und wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich geprägt hat, in der Frühen Neuzeit zum Beispiel die gesellschaftlichen Beziehungen von Juden und Christen. Das secretum des unzugänglichen oder willkürlich vorenthaltenen Wissens inspiriert die Literatur von der gothic novel bis zum Kriminalroman. In den Mosse-Lectures sollen verschiedene Varianten des Geheimen und Geheimnisvollen zur Sprache kommen, von den jüdischen Mysterien bis zum politischen Arkanum, von der Intimität bis zur heimlichen Machenschaft und auch von der Kryptographie bis zur elektronischen Verschlüsselung. Aufmerksamkeit finden die verschiedenen Methoden und Praktiken, mit denen die Zugänglichkeit und die Verweigerung des Wissens organisiert werden. Schauplätze, Szenen, Ereignisse und Eklats geben Aufschluss über die kulturelle Logik des Geheimnisses, über deren Wirksamkeit. Dabei rücken am Ende nicht nur Personalia, sondern Machenschaften und Institutionen in den Blick, die – von den Geheimbünden der Freimaurer bis zu den staatlichen Geheimdiensten – auf das Management von Geheimnissen spezialisiert sind.
Moshe Idel
(Hebrew University Jerusalem)
»Secrets and Mysteries in Kabbalah and Modern Scholarship«
Donnerstag, 29.10.2015, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Einführung und Gespräch: Christina von Braun, Humboldt-Universität zu Berlin
Drei Theoretiker des Geheimnisses in der Moderne sind zu benennen: Leo Strauss, Mircea Eliade und Gershom Scholem. Am Anfang des Vortrags werden verschiedene »Arkanisierungen« (Geheimhaltungen) des Judentums vor der Kabbalah behandelt und Überlegungen zum Hintergrund des Verständnisses der Kabbalah in der Wissenschaftsgeschichte angestellt. Im Zentrum des Vortrags steht die Funktion der verschiedenen biblischen und rabbinischen Termini für das Geheimnis. Der Begriff »Sod« kann drei verschiedenen Bedeutungen und Funktionen annehmen: gemeint ist zum einen der rein nummerische Wert der Wortbedeutung, der vergleichsweise zu ermitteln ist, zum andern die symbolische Funktion des Geheimnisses im biblischen Wortschatz und in den Ritualen des Judentums und darüber hinaus die allegorische, die ›intellektuelle‹ Entschlüsselung des »Sod«. Die Bedeutung der »Geheimnisse der Torah« (»Sitrei Torah«) ist umstritten: die Frage einer ›authentischen‹ Esoterik. Der Begriff »Seter« betrifft die vielfachen Bedeutungen des Begriffs Geheimnis in den Schriften des Abraham Abulafia. Abschließend soll die Schematisierung dessen, was in der Kabbalah unter »Geheimnis« zu verstehen ist, diskutiert werden, so bei Martin Buber und in den Mystifikationen einiger moderner Gelehrter.
Moshe Idel ist Professor em. für »Jüdisches Denken« an der Hebräischen Universität und am Shalom Hartman Institute in Jerusalem, seit 2009 auch am Tikvah Center for Law and Jewish Civilization an der New York University, zahlreiche Gastprofessuren u.a. in Harvard, Yale und am Collège de France; neuere Veröffentlichungen u.a.: »Ben. Sonship and Jewish Mysticism« (2007), »Saturn’s Jews« (2011); auf Deutsch sind erschienen: »Der Golem« (2007), »Kabbalah und Eros« (2009), »Alte Welten, neue Bilder – Jüdische Mystik und die Gedankenwelt des 20. Jahrhunderts« (2012)
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https://voicerepublic.com/talks/secrets-and-mysteries-in-kabbalah-and-modern-scholarship
Peter Galison
(Harvard University)
»Secrecy, Surveillance, and the Self«
Donnerstag, 05.11.2015, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Einführung und Gespräch: Lorraine Daston, MPI für Wissenschaftsgeschichte
Wie verändert sich unser Bewusstsein, wenn wir wissen, dass jede unserer physischen Bewegungen endlos archiviert werden kann, für lange Zeit auffindbar und abrufbar ist? Welche psychischen und physiologischen Auswirkungen hat die über die digitalen Medien jederzeit mögliche Datenspeicherung und Überwachung? Zur Beantwortung dieser Fragen rekurriert der Wissenschaftshistoriker Peter Galison auf das Wissen der Psychoanalyse, auf die in der »Traumdeutung« analysierten Verdrängungsmechanismen, die Sigmund Freud »Zensur« nannte: in Analogie zu den im Ersten Weltkrieg gängigen Praktiken der Überwachung und Geheimhaltung. In unserem Zeitalter der Vorherrschaft elektronischer Kommunikationsmittel hat diese »Selbstzensur« eine andere Dimension angenommen. Wir wissen: Staatliche Geheimdienste, Sicherheitsunternehmen, Kommunikationsplattformen und auch soziale Netzwerke sind in der Lage, »digitale Identitäten« zu identifizieren und individuelle Verhaltensweisen zu prognostizieren. Was wir nicht genau wissen: wie sich künftig die von Freud seinerzeit analysierten Strategien der Verdrängung und Selbstzensur unter den Bedingungen von Big Data auf unser kommunikatives Denken und Empfinden auswirken werden. Wird sich ein anderes »Selbst« formieren? Wird es ein Aufbegehren des Verschwiegenen und Unterdrückten geben?
Peter Galison Professor für Wissenschaftsgeschichte und Physik an der Harvard University, zuvor in Stanford, School of Philosophy and Science; im Grenzgebiet der Künste und Wissenschaften zahlreiche Projekte, auch in Deutschland, »Iconoclash« ( ZKM Karlsruhe 2002), mit William Kentridge »The Refusal of Time« (Kasseler Documenta 2012), Filme u. a mit Robb Moss »Secrecy« (2008); neuere Veröffentlichungen u.a. »Einstein’s Clocks. Poincaré’s Maps« (2003), mit Lorraine Daston »Objectivity« (deutsch 2007), »Einstein for the 21st Century. His Legacy in Science, Art, and Modern Culture« (hg. 2008).
Daniel Jütte
(Harvard University, z.Zt. Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin)
»Das Geheimnis als Chance: Juden und Christen in der vormodernen Ökonomie des Geheimen«
Donnerstag, 26.11.2015, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Einführung und Gespräch: Burkhardt Wolf, Humboldt-Universität zu Berlin
Der Vortrag skizziert die Geschichte des Geheimnisses im vormodernen Europa (ca. 1400–1800). Eine der Thesen lautet, dass die Epoche zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert ein veritables »Zeitalter des Geheimnisses« war. Keine andere Epoche der europäischen Geschichte – weder davor noch danach – hat eine solche Faszination für das Geheimnis und die geheimen Wissenschaften an den Tag gelegt. Arkanes Wissen wurde weithin als positives Wissen geschätzt, und diese Vorstellung vom »guten Geheimnis« erstreckte sich auf alle Bereiche der damaligen Lebenswelt, die Alltagskultur und die Sphäre von Wissenschaft und Wirtschaft sowie die politische Kultur. Der Vortrag unternimmt den Versuch, die Triebkräfte hinter der frühneuzeitlichen Faszination für Geheimnisse zu erkunden. Als ein vielversprechender Ausgangspunkt dient hierbei die Frage nach der Bedeutung und Funktion von Geheimnissen in den christlich-jüdischen Beziehungen der damaligen Zeit. Am Beispiel der vielfältigen Interaktionen zwischen Juden und Christen in unterschiedlichen Geheimwissenschaften – darunter die Alchemie, die Technologie und militärisches Arkanwissen – soll veranschaulicht werden, dass die frühneuzeitliche »Ökonomie des Geheimen« eine riskante und höchst komplexe Kontaktzone für Juden und Christen bildete.
Daniel Jütte, Junior Fellow an der Harvard University, Promotion am Historischen Seminar der Universität Heidelberg, Arbeitsschwerpunkte in der Frühgeschichte der europäischen Moderne, Wissensgeschichte und Geschichte des Judentums; 2015-16 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; Publikationen: »Das Zeitalter des Geheimnisses. Juden, Christen und die Ökonomie des Geheimen 1400-1800« (2011), »The Strait Gate. Thresholds and Power in Western History« (2015).
Jakob Tanner
(Universität Zürich)
»Der diskrete Charme des Kapitals: Über den Zusammenhang von Geheimnis und Geschäft«
Donnerstag, 03.12.2015, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Einführung und Gespräch: Ethel Matala de Mazza, Humboldt-Universität zu Berlin
Die moderne Demokratie trat mit einem Öffentlichkeits- und Transparenzversprechen gegen das Arkanum des Ancien Régimes an. Dennoch ist das Geheimnis bis heute eine zentrale Betriebsgrundlage politischer Herrschaft geblieben und verbindet sich – als Geschäfts- und Bankgeheimnis – mit der Akkumulation von Kapital und der Produktion von Reichtum. Gerade im wirtschaftlich-Finanziellen zeigt sich das Spannungsmoment zwischen medialer Fiktionalisierung und wissensbasierter Macht. Mittels der Patentgesetzgebung sollte die Offenbarung von Produktionsgeheimnissen und die Zirkulation von Wissen gefördert werden. Gleichzeitig stellen das Verbergen von Vermögen und der Einsatz sensitiver Informationen durch Insider wichtige strategische Verhaltensmuster im internationalen Steuerwettbewerb und in Finanzmarkttransaktionen dar. Beides ist inkriminiert, beides wird praktiziert. Anhand der Schweiz, die als globales Paradigma dechiffriert wird, lässt sich zeigen, wie eine nationale Kultur der Diskretion mit einer transnationalen Moral interferiert und welche paradoxen Effekte aus dem Kampf gegen eine Blackbox resultieren.
Jakob Tanner ist Professor em. für Geschichte der Neuzeit an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und am Historischen Seminar der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Geschichtstheorie, Geschichte der Schweiz, Wirtschafts-, Finanz- und Unternehmensgeschichte, Wissenschafts-, Körper-, Ernährungs- und Medizingeschichte. 1996-2001 Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg. Mitherausgeber verschiedener historischer Zeitschriften, u.a. »Historische Anthropologie«. Ehrendoktor der Universität Luzern.
Eva Menasse und Carolin Emcke
(Berlin)
»Das Geheimnis (in) der Literatur«
Donnerstag, 04.02.2016, 19 Uhr c.t., Unter den Linden 6, Senatssaal
Auf zauberische Weise sind Geheimnisse der Stoff, aus dem die Literatur besteht. Schriftsteller eignen sich Geheimnisse an und machen sie öffentlich. Aber nur, wenn es ihren Werken gelingt, auf eine andere, nämlich genuin literarische Weise wiederum neues Geheimnis zu schaffen, wird echte Literatur daraus. Das unterscheidet sie von der Unterhaltungsliteratur, die zwanghaft danach strebt, bis zur letzten Seite jeden Zweifel auszuräumen. Literatur ist ein geheimnisvolles Gefäß für Ambivalenzen, Unklares und Widersprüchliches. Wie man mit Sprache Geheimnisse rahmen und erzeugen kann, will der Vortrag von Eva Menasse anhand von Beispielen zeigen. Er wird versuchen, das Geheimnis in der Literatur vom Rätsel zu unterscheiden, er wird Fragen von Camouflage und Buddenbrooks-Effekt zumindest streifen, und er wird aus der persönlichen Schreiberfahrung berichten, wieviel ein Autor über seine Figuren wirklich weiß und was ihm selbst bis zuletzt aus gutem Grund verborgen bleibt.
In dem anschließenden Gespräch soll es zudem um die Frage gehen, inwiefern die so verstandene Literatur eine Vorstellung von Geheimnissen behütet und erweitert, die in der hypertransparenten Welt der Überwachung abhandengekommen ist. Mit dem Geheimnis verknüpft sich nicht allein das notwendig Verborgene, sondern auch das Private, Intime, Unsichere, und damit womöglich auch das Verzeihliche. Was für eine Gesellschaft ist das, in der das Geheimnis und alles, was mit ihm verbunden ist, keinen Raum und keinen Schutz mehr erhält? Was für Deformationen des Menschlichen und der menschlichen Beziehung ergeben sich aus der Allianz von freiwilliger Transparenz und unfreiwilliger Überwachung?
Eva Menasse, Österreichische Journalistin und Schriftstellerin, im Jahr 2000 erschien ihr Bericht Der Holocaust vor Gericht, ihre Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt: Vienna (2005), Lässlische Todsünden (2009), Quasikristalle (2013); 2015 erschien ein Band mit Essays Lieber aufgeregt als abgeklärt
Carolin Emcke, freie Journalistin und Autorin, Reportagen aus Krisengebieten für Die Zeit, Kolumnistin der Süddeutschen Zeitung, Gastdozentin an verschiedenen Universitäten, Buchpublikationen u.a. Von den Kriegen. Briefe an Freunde (2004), Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF (2008), Wie wir begehren (2012), Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit (2013)