Landleben
Wintersemester 2024/25
Zwischen Idylle und Provinz liegt ein weites Feld. Auf der einen Seite sehen sich ländliche Kommunen mit vehement sinkenden Bevölkerungszahlen und ›sterbenden Dörfern‹ konfrontiert; andererseits setzt das Versprechen eines ›einfachen‹ und naturnahen Lebens nicht erst seit den Künstlerkolonien der Moderne tiefe Sehnsüchte eines (groß-)städtischen Blicks auf ländliche Räume frei. Dabei ist schon von den frühen Arbeiten der Rural Sociology und ihrem Bemühen um eine differenziertere Analyse ländlicher Gesellschaften am Beginn des 20. Jahrhunderts klar benannt worden, dass rurale Lebenswelten komplexer sind, als die Rede von der Dorfgemeinschaft und das hartnäckige (Vor-)Urteil ihrer Rückständigkeit gegenüber einer städtischen Moderne nahelegt. Tatsächlich eröffnen gerade die historischen Transformationen des Dorfes – und seiner Geschichten – einen neuen Blick auf die Peripherien der Moderne. Erkennbar wird darin, dass ›Land‹ in seiner materiellen räumlichen Struktur als (endliche) Ressource fernab stereotyper Romantisierungen einen zentralen Schauplatz in der Geschichte gesellschaftspolitischer Konfliktlagen und sozialer Ausdifferenzierungen darstellt. Das ›Ländliche‹ geht aus kulturellen Deutungsschemata und Ästhetisierungen hervor, auch ländliche Lebensformen erweisen sich als zutiefst von gesellschaftlichen Dynamiken geprägt.
Im Wintersemester 2024/25 unternehmen die Mosse Lectures diskursive Ausflüge aufs Land und betrachten ländliche Räume als Gegenstand kultureller Imaginationen ebenso wie politischer und ökonomischer Vereinnahmungen: Wie haben sich ländliche Lebensformen in der Moderne gewandelt, wie wurde und wird das ›Ländliche‹ in der Vielzahl seiner konkreten Ausformungen als (zumeist vom städtischen Blick überformtes) Deutungsschema beschrieben und imaginiert? Ist die ›Provinz‹ Austragungsort einer alternativen, anti-metropolitanen Politik? Wo verläuft die Grenze von Stadt und Land als Kultur- bzw. Naturraum – und: gibt es sie angesichts der funktionalen Verbindungen zwischen den Räumen überhaupt? Wie arbeitet die Literatur an der Errichtung, Verschiebung oder Auflösung von Stadt-Land-Grenzen und welche Herausforderungen stellen sich für eine zunehmend in Städten lebende Gesellschaft hinsichtlich der Bedingungen und Grenzen ökologisch nachhaltiger Landwirtschaft?
Marcus Twellmann
Berliner Umlandliteratur
mit Claudia Stockinger und Ethel Matala de Mazza
Donnerstag, den 12. Dezember 2024 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Betrachtet man die derzeit entstehende Berliner Umlandliteratur als Bestandteil einer rurbanen Assemblage, lässt sich eine relationale Perspektive auf unterschiedliche Räume gewinnen und nach der Teilhabe der Literatur an sozionaturalen Prozessen fragen. Ohne das Verhältnis von Stadt und Land im Vorhinein als Gegensatz auszulegen, kann man eine solche, potentiell wirkmächtige Verwendung der Unterscheidung durch literarische, politische und wissenschaftliche Akteure in den Blick nehmen. Während manche Beobachter hier eine gesellschaftliche Spaltungslinie erkennen, wenden andere sich gegen radikalisierte Diskursakteure, die Konflikte herbeiredeten. Trifft dieser Vorwurf auch eine kritische Wissenschaft vom Stadt/Land-Gegensatz? Und wie operiert die Erzählkunst in diesem Zusammenhang?
MARCUS TWELLMANN: Literaturwissenschaftler; seit 2021 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Marcus Twellmann leitete die Forschungsstelle »Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären« an der Universität Konstanz und war im Exzellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« als wissenschaftlicher Koordinator tätig. Seine Forschungsinteressen gelten der Literatur- und Kulturtheorie sowie der neueren deutschen Literatur im globalen Kontext, insbesondere reisenden Formen. 2019 erschien die Studie »Dorfgeschichten. Wie die Welt zur Literatur kommt« im Wallstein Verlag.
CLAUDIA STOCKINGER: Literaturwissenschaftlerin; Professorin für Neuere deutsche Literatur (17. – 19. Jahrhundert) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2022 leitet Claudia Stockinger das Teilprojekt »Populäre Narrative des guten Lebens. Wechselverhältnis von Medizin und Zeitlichkeit im deutschen Fernsehen« der DFG-Forschungsgruppe 5022 »Medizin und Zeitstruktur des guten Lebens«. Ihre Forschungsschwerpunkte gelten der Literaturgeschichte der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts, der Literatur und dem Literaturbetrieb der Gegenwart, der Theorie der Kanonbildung, der Intertextualität und Autorschaft sowie der ruralen Moderne.
Anja Decker
Ländliche Peripherien als plurale Erfahrungsräume
mit Joseph Vogl
Donnerstag, den 16. Januar 2025 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Die Lebenschancen und Handlungsspielräume in Europas ländlichen Peripherien sind Gegenstand lebhafter Debatten, die von den Sozial- und Kulturwissenschaften intensiv mitgestaltet werden. Diagnosen und Zuschreibungen, Befürchtungen und Hoffnungen sind dabei ebenso vielfältig wie widersprüchlich: Ländliche Peripherien werden sowohl als benachteiligte als auch als benachteiligende Regionen in den Blick genommen, in denen besondere Herausforderungen für die Alltagsbewältigung auftreten. Gleichzeitig werden sie als Möglichkeitsräume wahrgenommen, in denen Lösungen im Umgang mit Prekarität und multiplen Krisen entstehen. Ein Fokus liegt zunehmend auf den politischen Konsequenzen und sozialen Dynamiken, wenn Regionen und ihre Bevölkerung als ›abgehängt‹ oder ›innovationsfern‹ verstanden oder als Träger*innen von ›Potentialen‹ in die Verantwortung genommen werden. Doch wie erfahren Bewohner*innen ländlicher Peripherien ihre Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeiten? Welche räumlichen und zeitlichen Bezüge kommen dabei zum Tragen? Welche Lektionen ergeben sich aus den alltäglichen Aushandlungen unterschiedlicher Wahrnehmungen vor Ort? Ausgehend von langjährigen ethnographischen Forschungen und qualitativen Interviews in Tschechien untersucht der Vortrag subjektive Konstruktionen von Handlungsmächtigkeit aus der Perspektive von Bewohner*innen ländlicher Peripherien.
ANJA DECKER: Kulturanthropologin; Anja Decker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört neben der Anthropologie ländlicher Räume insbesondere die Prekaritäts- und Ungleichheitsforschung. Sie ist Co-Initiatorin der Kommission Kulturanalyse des Ländlichen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, deren Sprecherin sie von 2017-2021 war. In deutscher Sprache erschien zuletzt von ihr der mit Manuel Trummer herausgegebene Band »Das Ländliche als kulturelle Kategorie«.
Daniela Danz
Berichte aus der zentralen Provinz
mit Stefan Willer
Donnerstag, den 23. Januar 2025 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Die Diskrepanz von ländlichen und urbanen Räumen hat, wie die jüngsten Wahlen zeigten, das Potential, politische Dynamiken in Gang zu setzen und wird eines der Zukunftsthemen in Hinsicht auf die gesellschaftliche Transformation sein. Wie man dieses Spannungsfeld poetisch fassen kann, damit setzt sich Daniela Danz in ihren Texten auseinander. Ihre Mosse Lecture wirft die Frage auf, wie die Poetisierung des ›Ländlichen‹ ländliche Räume nicht nur als geografische Orte, sondern auch als ein charakteristisches Geflecht von Bezügen zwischen Geschichte und Gegenwärtigkeit erfahrbar macht.
DANIELA DANZ: Lyrikerin, Romanautorin, Essayistin und Herausgeberin; Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz und seit 2022 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Daniela Danz‘ Lyrik wurde in verschiedene Sprachen übersetzt, darunter Englisch, Arabisch, Französisch, Spanisch, Serbisch, Tschechisch, Polnisch, Armenisch und Albanisch. Die englische Übersetzung ihres 2020 erschienenen Bandes »Wildniß« (Übers. v. Monika Cassel) war Finalist des Rhine Translation Prize. 2019 erhielt sie den Deutschen Preis für Nature Writing, 2023 den Thüringer Literaturpreis. Zuletzt erschien der Essayband »Nichts ersetzt den Blick ins Gelände« im Wallstein Verlag.
Frank A. Ewert
Landwirtschaft quo vadis? Perspektiven für eine nachhaltige Transformation des Agrar- und Ernährungssystems
mit Lothar Müller
Donnerstag, den 13. Februar 2025 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Die Landwirtschaft steht vor enormen Herausforderungen, die viele Bereiche umfassen, wie Ernährungssicherheit, Klimawandel, Degradation natürlicher Ressourcen, Artenschwund, volatile Preise und instabile Lieferketten. Auch künftige Generationen und Menschen im Globalen Süden müssen ausreichend und mit qualitativ hochwertigen Nahrungsmitteln versorgt werden, die nur auf der Basis intakter Ökosysteme erzeugt und bereitgestellt werden können. Nachhaltige Lösungen gehen mit Zielkonflikten einher und erfordern die bestmögliche Nutzung von Synergien.
Historisch betrachtet hat die Landwirtschaft die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft fundamental geprägt, hat aber auch selbst große Veränderungssprünge erfahren und befindet sich gegenwärtig vor dem umfangreichsten Wandel der letzten Jahrhunderte. Der notwendige und dringliche Transformationsprozess des Agrar- und Ernährungssystems verläuft jedoch nur schleppend und kann den wachsenden Anforderungen stets weniger entsprechen. Nicht zuletzt überfordern Größe, Geschwindigkeit und Umfang der Herausforderungen und die Tragweite der notwendigen Veränderungen die beteiligten Akteure aus Politik, Praxis, Forschung, Industrie und Gesellschaft. Dennoch lassen sich Ansätze finden, die einen erfolgreichen Einstieg in den komplexen Transformationsprozess versprechen. Der Vortrag beleuchtet die enormen Herausforderungen der Landwirtschaft und entwirft Perspektiven einer Transformation zu nachhaltigen Agrar- und Ernährungssystemen, die vielfältige Funktionen erfüllen, wie Ernährungssicherheit, den Erhalt von Ökosystemen und Biodiversität und Klimaschutz. Beispielhaft werden Ansätze dargestellt und diskutiert, wie sie den Transformationsprozess beschleunigen können.
FRANK A. EWERT: Agrarwissenschaftler; Professor für Pflanzenbau an der Universität Bonn. Frank A. Ewert leitet das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF e.V.). Er zählt zu den Highly Cited Researchers im Bereich Agrarwissenschaften und ist unter den Top100 der Reuters »Hot List« der weltweit einflussreichsten Klimawissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Zu seinen Fachgebieten zählen die Nutzpflanzenwissenschaften, die Produktionsökologie, Systemanalyse und die Modellierung von Pflanzenwachstum. Darüber hinaus sind thematische Schwerpunkte seiner Arbeit die Nachhaltigkeitsbewertung sowie die Abschätzung von Folgen und Einfluss des Klimawandels auf Pflanzenproduktionssysteme, Ernährungssicherheit und Ressourcenschutz.