Wintersemester 2023/24
Mit verlässlicher Regelmäßigkeit nimmt der Mensch sich raus aus der Welt; ein Drittel seines Lebens verbringt er schlafend. Während dieser Zeit sind wir wie „ungeboren“, schreibt Sigmund Freud einmal. „Jedes Erwachen ist dann wie eine erneute Geburt.“ Und umgekehrt, so ließe sich hinzufügen: Mit jeder Geburt beginnt eine lebenslange Beziehung zu Schlaf und Erwachen. Dass diese Beziehung aber weder nur „natürlich“ noch komplikationsfrei verläuft, sondern aufs Engste an die Schlafkulturen ihrer jeweiligen Zeit gebunden ist, offenbart ein Blick in die Geschichte des Schlafs. Wie schon Kinder an einen alltagstauglichen Schlafrhythmus herangeführt werden, was man sich unter einem guten bzw. gesunden Schlaf vorstellt, wie mit Schlafstörungen umgegangen und Schlaf medizinisch überwacht und gefördert wird, unterliegt historisch veränderlichen Vorzeichen.
Spätestens im ausgehenden 19. Jahrhundert rückte der Schlaf in den Fokus der kollektiven Aufmerksamkeit: Infolge einer Reihe gesellschaftlicher Umbrüche, unter anderem die Mechanisierung der Arbeit und die Erfindung des elektrischen Lichts, wurde die Einteilung in Tagwerk und Nachtruhe prinzipiell obsolet – gearbeitet werden konnte nun theoretisch zu jeder Zeit. Schlaf erschien vor diesem Hintergrund als eine befragenswerte Notwendigkeit, die es zu verstehen, beforschen, optimieren oder auch zu überwinden galt. Die in dieser Zeit von Unternehmern, Ärzten und Schlafforschern angestoßene Vermessung und Ökonomisierung des Schlafs (Hannah Ahlheim) setzt sich bis heute fort, wobei sie zunehmend zu einer Selbsttechnik avanciert ist: Mithilfe spezieller Apps können wir den Rhythmus und die Qualität unseres Schlafs präzise überwachen; online abrufbare Schlafmeditationen sollen uns beim Einschlafen helfen; gegen nächtliche Unruhe stehen Arzneimittel und Schlaftherapien bereit.
Im Wintersemester 2023/24 möchten die Mosse Lectures die ökonomische, kulturelle und politische Bedeutung des Schlafs und seiner Gegenspielerin, der Schlaflosigkeit erkunden: Woher rührt die ungebrochene Faszination am Schlaf und welche Herausforderungen sind nach wie vor mit seiner wissenschaftlichen und künstlerischen Erkundung verbunden? Wie wurde Schlaf politisch metaphorisiert und welche Rolle spielt er für Erzählungen individueller und politischer Handlungsversäumnisse? Unter welchen Umständen kann Schlaf wiederum zu einem emanzipativen Akt des Widerstands gegenüber den Anforderungen einer Gesellschaft werden, die auf größtmögliche Leistungsbereitschaft und Effizienz ausgerichtet ist?
mit Lothar Müller
Donnerstag, den 30. November 2023 | 19.15 Uhr | Auditorium des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums, Geschwister-Scholl-Str. 1–3, 10117 Berlin
Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens – und damit verbringt er einen großen Teil seiner Zeit unproduktiv und ohne Bewusstsein. Schlaf sperrt sich gegen Ausbeutung und Kontrolle. Wie geht eine moderne Gesellschaft, in der Rationalität und effiziente Zeitnutzung eine zentrale Rolle spielen, mit diesem widerspenstigen Phänomen um? Wie hat sich unser Verhältnis zum Schlaf durch Industrialisierung, Urbanisierung und Globalisierung, durch neue Lichtquellen, dauerwache technische Geräte und wissenschaftliche Vermessung verändert? Was erfahren wir über das Funktionieren einer Gesellschaft, wenn wir ihren Schlaf erforschen?
Der Vortrag begleitet Soldaten, DJs und Piloten, Schlafforscher:innen und Schlafende durch ihre Nächte. Dabei zeigt er auf, wie sich das Verständnis des schlafenden und träumenden Menschen im Laufe des »langen 20. Jahrhunderts« veränderte und der Schlaf auf unterschiedliche Weise zu einer wertvollen „Ressource“ wurde.
HANNAH AHLHEIM: Historikerin und Professorin für Zeitgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen; Ahlheim war u.a. wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und von 2017-2018 Fellow des Instituts für die Geschichte und Zukunft der Arbeit am IGK Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive (re:work) der Humboldt-Universität; sie forscht zur Geschichte des Nationalsozialismus, zur Geschichte des Antisemitismus, zum Unbewussten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts und zur Geschichte von Schlaf und Zeit; ihre Studie »Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert« erschien 2018 im Wallsteinverlag.
mit Ulrike Vedder
Donnerstag, den 11. Januar 2024 | 19.15 Uhr | Auditorium des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums, Geschwister-Scholl-Str. 1–3, 10117 Berlin
Ausgehend von Francisco Goyas Capriccios zum »Schlaf der Vernunft« werden wesentliche Zustände sowie Grenzphänomene des Schlafes untersucht. Nach einer überblicksförmigen Sicherung der wesentlichen Phänomene des Schlafes werden die semantischen Felder skizziert, die dazu geführt haben, dass Erscheinungsweisen und Praktiken des Schlafes metaphorisch gedeutet wurden. Dadurch wurden z.B. Müdigkeit, Schlaf, Schlafwandeln, Traum und Erwachen, die eigentlich leibliche und phantasmatische Zustände oder Vorgänge sind, zu ›Quellgebieten‹ von Metaphern: diese fügten den politischen Zuständen oder Handlungen kulturellen ›Sinn‹ hinzu. So wurden dem politischen System Bedeutungsebenen implantiert, welche die Begrenzung des Politischen auf das Bewusste und Diskursive als definierende Merkmale der Politik infragestellen oder gar aufheben. Halluzinatorische oder somnambule Kollektiv-Zustände gehören demnach ebenso zum Politischen wie traumartige Illusionen oder eine erschöpfende Fatigue von je einzelnen Subjekten. Aber auch politische Aufbruchsbewegungen können als ‚Erwachen‘ aus einem allgemeinen Zustand des Dämmerns und des Unbewussten gedeutet werden. Im 20. Jahrhundert wurden die pharmazeutischen und toxischen Mittel entscheidend, die sämtliche Ebenen und Grenzzustände des Schlafes in ein ‚Regime‘ verwandeln. Hat diese ‚Verkünstlichung‘ des Schlafes und des Wachens auch eine regulative, womöglich anästhetisierende und manipulative Kraft im Politischen entwickelt? – Naturwissenschaftliche Perspektiven auf den Schlaf werden hier nicht zum Thema. Vielmehr werden Spuren der Sprache und der kulturellen Imagologie verfolgt, welche unsere Sicht auf die Politik erweitern können.
HARTMUT BÖHME: Literatur- und Kulturwissenschaftler, bis zu seiner Emeritierung Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin; Böhme war Leiter verschiedener Forschungs-Projekte – unter anderem des Sonderforschungsbereichs Transformationen der Antike, des Graduiertenkollegs Codierungen der Gewalt im medialen Wandel; Gastprofessor an verschiedenen Universitäten in den USA und in Japan sowie Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie in Weimar und am kulturwissenschaftlichen Institut Essen; zu seinen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten gehört neben der Kulturtheorie und der Literaturgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert die Kulturgeschichte seit der Antike, die Theorie und Geschichte des Fetischismus, die Wissenschafts- und Bildgeschichte und die historische Anthropologie und Psychohistorie.
mit Stefan Willer
Donnerstag, den 25. Januar 2024 | 19.15 Uhr | Auditorium des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums, Geschwister-Scholl-Str. 1–3, 10117 Berlin
So much has been said and written about the connection between insomnia and creativity, and these discussions often centre on a one-way causal connection: that creativity is a cause of insomnia. ‘I believe this sleeplessness comes only because I write,’ Kafka said in his Diaries. This in turn gives rise to lists of artists and writers who’ve suffered sleeplessness, and much anecdotal posturing around what the novelist Marie Darrieussecq calls ‘the fantasy of the chosen’ – the notion that insomnia is somehow symptomatic of a more than usually astute, alert and elevated mind; a mind awake in all senses. But what of the reverse connection between insomnia and creativity? Not that or if or why creativity causes insomnia, but rather insomnia’s impact on creativity. What does sleep deprivation do to the act of artistic creation? What part does writing, in particular, play in the insomniac’s life – what is it to write with one’s brain on fire?
This lecture looks at what could be thought of as sleepwriting – writing in the twilight zone of extreme sleep deprivation, writing as a substitute for sleeping. Can writing be a form of lucid dreaming, a surrogate for what is lacking during wakeful nights? A way, perhaps, of expressing and sorting subconscious processes; a means of sanity, and a route back to life, to feeling alive?
We explore this domain of sleepwriting to question how sleeplessness urges and alters a writer’s creativity, what is lost when sleep is insufficient or absent, and what there is to be found.
SAMANTHA HARVEY: Britische Autorin, Senior Lecturer für creative writing an der Bath Spa University; seit ihrem Debüt »The Wilderness« (2009) veröffentliche Harvey drei weitere Romane, die von der Kritik äußerst positiv aufgenommen und für den Man Booker Prize, den Orange Prize und den Guardian First Book Award nominiert wurden; in deutscher Sprache erschien zuletzt 2022 »Das Jahr ohne Schlaf« bei Hanser Berlin.
mit Ethel Matala de Mazza
Donnerstag, den 8. Februar 2024 | 19.15 Uhr | Auditorium des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums, Geschwister-Scholl-Str. 1–3, 10117 Berlin
MICHAEL HOCHGESCHWENDER: Kulturhistoriker, Professor für nordamerikanische Kulturgeschichte, empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie an der Ludwig-Maximilians Universität München; seine Forschungsinteressen gelten vor allem der Geschichte der USA in der Antebellums- und Bürgerkriegsepoche sowie in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg, der Frauen- und Geschlechtergeschichte der USA, der Geschichte des US-amerikanischen Katholizismus, der Westernisierung und der Kulturgeschichte des Kalten Krieges; Hochgeschwender ist im Beirat der deutschen Gesellschaft für Amerikastudien und Autor zahlreicher Bücher zur Religions- und Kulturgeschichte der USA.